1.-August-Rede in Ulmiz, FR

Alle Jahre feiert die Schweiz ihren Nationalfeiertag nach traditionellem Muster. Es gibt nur wenige Tage im Jahr, die ähnlich vorhersehbar sind wie der 1. August: Flaggen- und Blumenschmuck, 1.-August-Brunch, Feuer und Feuerwerk. Und dazu gehören selbstverständlich auch 1.-August-Reden wie diese hier. Ich freue mich heute Abend zu Ihnen sprechen zu dürfen, liebe Ulmizerinnen und Ulmizer, Gempenacher, Murtner, liebe Freiburgerinnen und Berner, liebe Schweizerinnen und Ausländer. 

Die Tradition, die Gewohnheiten sind etwas Schönes. Ich bin aber ziemlich sicher, dass Sie nicht eine 08/15-Rede hören wollen oder gar diejenige des letzten Jahres. Ich habe Ihnen deshalb zum heutigen Festabend drei Dinge mitgebracht (welche, das verrate ich Ihnen in den kommenden Minuten):   

Da haben wir als erstes dieses Herz. Das 1.-August-Abzeichen dieses Jahres hat mich besonders angesprochen – es zeigt mir auf den ersten Blick die Liebe zu unserer Nation. Es heisst denn auch gemäss Website von Pro Patria, welche das Abzeichen verkauft: „Ein Herz für die Schweiz“. Ja – für welche Schweiz denn? Wir sind patriotisch, wenn wir mitfiebern mit unseren nationalen Eishockey- und Fussballteams, in der Leichtathletik oder im Tennis. Oder noch schweizerischer natürlich: beim Schwingen. Vielleicht ist uns aber die schweizerische Volksmusik näher als der Sport, mit Handörgeli oder Alphorn. Oder wir sind in ökologischer Weise mit der Schweiz verbunden: wir essen und trinken Produkte aus der Region oder wir fördern und pflegen unsere einheimische Landschaft mit Flora und Fauna (hier denke ich natürlich an den Lölibach und das Vernetzungsprojekt in Ihrer Gemeinde, das 2011 den Deutschfreiburger Landschaftspreis erhalten hat). Wie dem auch sei – wir lieben unsere Schweiz, unsere Eigenarten und unsere Traditionen. Jeder und jede auf seine oder ihre Weise – oder eben: dafür, für „unsere“ Schweiz, schlägt unser Herz. „Unsere“ gilt es allerdings zu definieren.

Der 1. August verbindet uns auf eine spezielle Art und Weise. Uns mit unserer Schweiz. Drum zu meinem zweiten Mitbringsel: einervirtuellen Zugsreise durchs Land. Wir reisen mit der Eisenbahn, weil wir verantwortungsbewusst Europas bestausgebauten öffentlichen Verkehr benutzen wollen. 

Wir fahren zuerst nach Bern und dann durch landwirtschaftlich geprägte Gegenden immer weiter in nordöstlicher Richtung, bis wir ins Limmattal gelangen. Unser Blick trifft auf ein Industriegebiet mit Werkhallen, Bürogebäuden, Einkaufszentren, Autobahnen und, dazwischen eingestreut, Einfamilienhaussiedlungen oder mir unbekannte Kleinstädte mit ihren Wohnüberbauungen. Weil wir heute den 1. August feiern, erkennen wir überall Gärten mit Grillfeuern, Schweizerfahnen, Lampions und vielen zufriedenen Gesichtern. Schliesslich ist heute arbeitsfrei. Und in der wertschöpfungsreichsten Gegend der Schweiz herrscht zumindest für einen Moment Musse statt Hektik. 

Unsere Reise durchs Land geht weiter. Nach nicht allzu langer Zeit blicken wir auf eine Piazza, Häuser in Tessiner Ambiente, Palmen und Touristen. Die Umgebung hat sich von Grund auf verändert, Ferienstimmung herrscht an allen Ecken, doch irgendwie anders als an einem gewöhnlichen Sonntag. Auch hier entdecken wir überall den „primo Agosto“, die Plätze und Strassen sind ausgeschmückt mit Schweizer Flaggen, langen Lichterketten und vielen Lampions. Und obschon es noch lange nicht dunkel ist, zischen und knallen vorzeitig erste Raketen in den Himmel. Die Leute feiern im Tessin halt etwas ausgelassener und ungeduldiger als in der übrigen Schweiz. 

Bereits etwas müde von der langen Zugsfahrt nicken wir einen Moment ein und wachen erstaunt auf, als der Zug wie durch ein Wunder plötzlich dem Lac Léman entlang fährt. Als gewiefte Zugsreisende haben wir uns einen Fensterplatz auf der Seeseite ergattert und wir geniessen die Aussicht entlang der weiten Kurven durch hügelige Weinberge. Es herrscht wenig Betrieb zwischen den Reben, die Weinbauern treffen wir wenig später in den Vorgärten ihrer Häuser, beim gemütlichen „verre d‘amitié“ mit Familie, Freunden und Nachbarn. Lampions, Fähnchen und Girlanden schmücken auch ihre Häuser. 

Unsere Reise kann beliebig fortgesetzt werden. Falls wir Lust dazu haben, treffen wir im Appenzell auf Bauernhöfe, die für den Brunch am 1. August mit Fahnen geschmückt sind, im Bündnerland auf Hotels mit Schweizerkreuzen oder im Freiburger Seeland auf Menschenansammlungen, die einer 1. Augustrede lauschen.

Wie vielfältig ist doch die Schweiz, die wir heute feiern! Zur Anschauung habe ich Ihnen schliesslich als Drittes ein kleines Geschenk mitgebracht (ich werde es abschliessend dem Gemeindeammann überreichen): es ist ein Handtuch , gestaltet von Ann Lee und Peter Zwirner (sie wohnen übrigens hier in der Region, im Seebezirk), mit unterschiedlich gezeichneten Schweizerfahnen. Sie zeigen auf witzige Art verschiedene Seiten der Schweiz: solche, die wir gerne haben oder Aspekte, auf die wir je nach Standpunkt verzichten könnten: 

Die kleine Schweiz, die hilfsbereite Schweiz, eine kleinkarierte Schweiz, die offene Schweiz, eine fröhliche oder eine bewegte Schweiz. Eben: verschiedene Seiten unseres Landes – es gibt nicht „eine“ Schweiz. Denken Sie an das kunterbunte Gebilde der 26 Kantone und ihrer Wappen (diese haben mir übrigens als Kind auf meinem Lampion am 1. August immer am meisten Eindruck gemacht – und machen es heute im Bundeshaus wenn ich von unten zur farbigen Bundeshauskuppel hinaufsehe, auf die ich Besucherinnen und Besucher gerne aufmerksam mache). Die Vielfältigkeit der Kantone, der Leute, der Sprachen (ich denke hier nicht nur an die vier Landessprachen, sondern vor allem auch an die vielen teils sehr unterschiedlichen Dialekte), die Vielfalt der Kulturen, letztlich der Denk- und Lebensweisen in unserem Land. Oder denken wir an die kontrastreichen Landschaften unseres Landes, von schneebedeckten Alpen und Voralpen über grüne Hügel- und blaue Seenlandschaften zu den Juraketten. 

Eine vereinte Vielfalt, das macht unsere Schweiz aus. Diese Vielfalt – dieses Puzzle – bildet zusammen die Schweiz, welche wir heute am Nationalfeiertag des ersten August feiern. 

Diese Vielfalt existiert nicht nur auf nationaler Ebene. Gerade wir hier im Kanton Freiburg sind uns der unterschiedlichen Kulturen besonders bewusst. Französisch neben Deutsch, die sehr unterschiedlichen Dialekte im Sense- oder im Seebezirk und noch das patois fribourgeois, oder dann katholisch oder reformiert, und im Seebezirk kommt die Frage dazu, ob man eher nach Bern oder nach Freiburg orientiert ist. Jede Region, jeder Bezirk, jede Gemeinde oder jeder Ortsteil hat ihre oder seine Eigenschaften. Wir wissen sie einerseits zu erhalten, sind uns der Wichtigkeit des Weiterbestehens unserer jeweiligen Eigenarten bewusst. Andererseits sind wir aber auch offen, uns neu zu orientieren. Ich denke hier beispielsweise an die Fusionsdiskussionen, welche derzeit in allen Bezirken im Kanton Freiburg stattfinden. Solche Zusammenschlüsse von bisher eigenständigen Gemeinden können Ängste hervorrufen – Angst, die Identität zu verlieren; Angst, nicht mehr genügend berücksichtigt zu werden, eine Minderheit zu bilden; oder einfach nur die Befürchtung, nach einem Zusammenschluss mehr Steuern bezahlen zu müssen. Andererseits hat eine Fusion viele positive Seiten – ich will an dieser Stelle nicht auf die Einzelheiten eingehen, sondern vor allem darauf hinweisen, dass es uns in der Schweiz gelungen ist, die wesentlichen Eigenheiten und Eigenarten, die verschiedenen Identitäten der Regionen trotz Zusammenschluss zu einer Nation über Jahrhunderte hinweg zu erhalten und uns trotzdem vorwärts zu bewegen, uns zu entwickeln. Dies sollte uns zuversichtlich stimmen und uns die nötige Offenheit geben, sei es, um die Frage der Fusionen zu diskutieren, sei es gegenüber Neuzuzügern, ob Schweizer oder Ausländerinnen.  

Und spätestens jetzt erkennen wir das Besondere an der Bedeutung des 1. Augusts. Er verbindet die Bewohnerinnen und Bewohner dieses Landes, Menschen unterschiedlicher Sprache und Kultur, unterschiedlichen Temperaments und Lebensart, mit unterschiedlichen Ansichten und Werten – auch politischer Art – in einem grossen weitverzweigten Volksfest, das Einigkeit, Zusammenhalt und Optimismus symbolisiert. 

Nationalfeiertage gibt es viele auf dieser Welt, seien sie am „4th of July“, am „14 juillet“ oder am „3. Oktober“, aber keiner ist vergleichbar mit dem 1. August, keiner wird so intensiv gefeiert und keiner gefällt mir auch nur annähernd so sehr wie unserer! 

Ich wünsche Ihnen allen einen schönen 1. August, ein frohes Fest, alles Gute und eine glückliche, optimistische Zukunft. 

02. Aug 2013