Ein halbes Jahr reden und schreiben über #metoo hat (noch) nicht genug gesellschaftliche Veränderungen gebracht. Über die Zusammenhänge zwischen patriarchalen Strukturen, Flirtleitfäden für Parlamentarier*innen und sexualisierter Gewalt. Ein Plädoyer für ein solidarisches Miteinander.

Es ist Ruhe eingekehrt. Blitzschnell und ohne viel Aufhebens kehrte die Ruhe ein. Der Status quo der westlichen Zivilgesellschaft wurde wiederhergestellt. Es ist alles wieder wie immer. Das macht mich so wütend. Ich bin stocksauer!

Auch nach dem x-ten Hashtag ist doch alles wieder beim Alten; ausser für ein paar überbezahlte Frauen* in Hollywood, ein paar ebenso überbezahlte Männer und einen Nationalrat in der Schweiz. Vor Kurzem noch haben wir ein paar Monate lang zum Teil wirklich gute und heftige Diskussionen darüber geführt, dass die meisten Frauen* in ihrem Leben Opfer von sexueller Belästigung oder sexualisierter Gewalt werden. Und nun? Die Stimmung ist gekippt und der Grundtenor lautet: «Ja, es ist schlimm, aber irgendwann ist auch mal gut. Wir haben euch ja Aufmerksamkeit geschenkt, nun haltet die Klappe, wir haben euch gehört.»

Nun, das hättet ihr gerne. Solange jede siebte Frau* in Europa vergewaltigt wird, solange wir rund 20 Prozent weniger verdienen für die gleiche Arbeit, solange unsere Körper sexualisiert und dressiert werden, solange werden wir nicht schweigen. Das haben wir genug getan. Das ist passé.

Hier kommen sie, die harten Fakten, und wir schweigen nicht, bis sie sich geändert haben!

Sexuelle Belästigung, sexualisierte Gewalt und Gewalt an Frauen*

Sexuelle Belästigung sowie sexualisierte Gewalt haben nichts mit Sex zu tun. Aber mit Macht. Sie beginnt da, wo Frauen* auf ihr Geschlecht und ihren Körper reduziert, oder aufgrund dieser Eigenschaften belästigt, bedroht und gedemütigt werden.

Dieses fatale Machtspiel befiehlt Personen, in den allermeisten Fällen Frauen*, wo sie hingehören. Es bringt Frauen* aus dem Konzept, reisst ihnen in bestimmten Situationen den Boden unter den Füssen weg. Ziel ist es, uns Frauen* zu verunsichern und in eine unangenehme Lage zu versetzen. Es geht darum die patriarchale Machthierarchie zu festigen oder herzustellen.

Im Rahmen der #metoo-Debatte wurde klar, dass viele nicht begriffen haben (oder auch nicht begreifen wollen), was sexuelle Belästigung ist. Zum Beispiel reagierten Parlament und Medien auf die, meines Erachtens richtige, Massnahme seitens der Ratspräsidien der Bundesversammlung auf die Anschuldigungen gegen Ex-Nationalrat Yannick Buttet, den Parlamentarier*innen ein Factsheet über sexuelle Belästigung abzugeben, genauso, wie man es von einer sexistischen Gesellschaft erwarten würde.

Die Medien berichteten von einem «Flirt-Leitfaden» und gaben so bereits die Richtung der Diskussion darüber vor. Belächeln erlaubt. Im Bundeshaus wurde in zahlreichen Interaktionen mit einem sarkastischen Unterton gefragt, ob man diese Diskussion so noch führen könne, oder ob man schon eine öffentliche Anprangerung fürchten muss.

Liebe Parlamentarierinnen und Parlamentarier...

Mal ein paar Fakten dazu, was hier belächelt wird:

Wir leben in einer Gesellschaft, liebe Parlamentarier*innen, in der "Für Frauen zwischen fünfzehn und vierundvierzig Jahren die Gefahr, durch männliche Gewalt zu sterben oder verstümmelt zu werden, weltweit grösser [ist] als durch Krebs, Malaria, Krieg und Verkehrsunfälle zusammengenommen", wie Rebecca Solnit den Pulitzer-Preis-Träger Nicholas Kristof in ihrem Text zitiert.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der mich eine Zeitung als „intellektuell unterbelichtet“ betitelt und niemand rührt sich. Kein Aufschreien. Aber wenn ich als dick bezeichnet werde, dann lärmt es im ganzen Lande. Mein Aussehen spielt 2018 (sic!) immer noch eine grössere Rolle, als mein Intellekt.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der in den letzten Monaten Millionen von Frauen* in die Öffentlichkeit getreten sind und offengelegt haben, sie seien Opfer von sexueller Belästigung geworden. Und trotzdem hat ein prominenter Moderator des Schweizer Fernsehens nichts Besseres zu tun, als zur besten Sendezeit einen Mann* lächerlich zu machen, der es sexistisch findet, 15 Minuten lang über die Oberweite von 4 Frauen zu diskutieren.

Ich will nicht in solch einer Gesellschaft leben! Und ich bin der Überzeugung, dass dies die Wenigsten wollen.

Aber wieso – wieso! –  schaffen wir es dann nicht, dieser Gewaltepidemie zuerst einmal die nötige Ernsthaftigkeit, die nötige Dringlichkeit und die nötige Wichtigkeit entgegen zu bringen?

Gewalt gegen Frauen* - und ich mache bewusst keine Abstufung zwischen einer Vergewaltigung, sexueller Belästigung, der Gewalt, die Frauen* ihren Körpern antun, um in die engen Schönheitsideale zu passen, oder verbaler Gewalt - fusst auf dem Patriarchat.

Gewalt gegen Frauen* ist wie eine Pyramide aufgebaut. Sie beginnt beim sexistischen Witz und endet mit dem Ehrenmord und der Vergewaltigung. Sexualisierte Gewalt und sexuelle Belästigung sind Teil dieses Konstruktes. Darum können die oben geschilderten Ereignisse nicht getrennt voneinander angeschaut werden. Alles hängt zusammen! Alles entspringt dem Willen zur Macht über eine andere – und die ist eben meistens weiblich*.

Gewalt kennt keine Nationalität, keine Klasse und kein Alter. Aber sie kennt ein Geschlecht. Und sie beginnt bei jeder sexistischen Diskriminierung.

Also hört auf, euch darüber lustig zu machen! Jeder einzelne sexistische Witz stärkt die Fundamente dieser Gewaltpyramide. Mit jedem Witz macht man sich schuldig, an der Gewaltorgie, die den Frauen* zugefügt wird, mitgewirkt zu haben.

Was tun?

Nun könnten wir alle in einer Ecke sitzen und weinen. Wir könnten bei jedem sexistischen Witz an die Decke gehen, was auch völlig in Ordnung wäre, aber wohl leider auch zu herzlich wenigen Verbesserungen führen würde.

Der Grund: Gewalt an Frauen*, Diskriminierung von Frauen*, ist eben eine Machtfrage. Und daher müssen wir es auch zu einer Macht- und nicht zu einer Anstandsfrage machen. Keine herrschende Gruppe in der Geschichte der Menschheit hat je die Macht, die sie innehatte, freiwillig abgegeben. Je machtvoller die Frauen* werden, desto weniger Macht besitzen die Männer*.

Mittelmässige Männer zum Beispiel (und sie sind es, die es vor allem trifft) werden nicht einfach hinter besseren Frauen* zurückstehen. Sie werden uns nicht ihren Posten in einer Firma, einer Partei, einer Organisation anbieten und sagen: «Hey, nimm doch meine Position ein, weil du eigentlich besser geeignet bist als ich, aber die sexistische Gesellschaft in der wir leben, bewertet dich einfach anders und gibt dir nicht die gleiche Ausgangslage. Das ist nicht fair.»

Das wird nicht passieren.

Auch werden Vergewaltiger nicht plötzlich merken, dass ihre Handlungen nicht so cool sind. Oder, dass Ehrenmorde etwas Dummes sind. Oder, dass sexuelle Belästigung einfach nicht ok ist. Die Männer geben ihre Kontrolle in diesem Machtregime nicht einfach so ab.

Daher müssen wir, liebe Frauen*, aufhören nur zu bitten. Schluss mit dem Erbeten von Hilfe, Anerkennung und Gleichberechtigung.

Wir müssen fordern. Wir müssen kämpfen. Wir brauchen Frauen*bünde, die funktionieren, die sich vernetzen und die sich gegenseitig helfen.

Wir müssen unsere Forderungen klar und deutlich formulieren.

Wir müssen bereit sein, diese Forderungen zu verteidigen. Auch dann, wenn man uns sagt, dass sie unangebracht, unerhört und sowieso übertrieben sind.

Selbst dann, wenn Mord- und Vergewaltigungsdrohungen in der Mailbox oder im Briefkasten landen. Sie sind extreme Zeichen dafür, dass die patriarchale Machtstruktur in Frage gestellt wird und wunde Punkte besonders aggressiver Zeitgenossen getroffen wurden.

Wir dürfen nicht aufhören anzuprangern. Wir dürfen auch nicht das Gefühl haben, dass es reicht, einfach zu sagen, was eigentlich schon alle wissen – nämlich, dass Frauen* nicht die gleiche Ausgangslage haben, wie die Herren der Schöpfung.

Und ihr, anständige Herren der Schöpfung. Nehmt uns endlich ernst. Sagt uns nicht, wie wir uns zu fühlen haben, wenn wir sexuell belästigt werden. Sagt uns nicht, wie wir uns zu verhalten haben, wenn wir Opfer von sexuellen Übergriffen werden. Sagt uns nicht, wie wir für unsere Rechte, für das Recht auf Würde, auf körperliche Unversehrtheit und auf Menschsein kämpfen sollen.

Unterstützt uns. Hört uns zu. Nehmt uns ernst. Schreitet ein, wenn ihr könnt. Habt keine Angst zu fragen. Reflektiert euch. Und vergesst nicht: wir alle reproduzieren die patriarchalen Machtverhältnisse – auch du.

Und an die anderen: Wir werden uns nicht mehr ruhig halten. Nie mehr. Ihr könnt versuchen uns zu sagen, es sei langsam genug. Es ist noch so lange nicht genug, bis keine Kassierin*, kein Zimmermädchen*, keine Ärztin* je wieder #metoo postet.

Wir sind wütend.

Und wir sind viele.

 

24. Mai 2018