Als Erstes möchte ich gleich festhalten, dass unser heutiger Parteitag nicht zufälligerweise im Tessin stattfindet. Dies ist selbstverständlich vielmehr ein Zeichen unserer Verbundenheit mit den sprachlichen Minderheiten in unserem Land und ein greifbarer Beweis für die Bedeutung des Tessins und der gesamten italienischen Schweiz für den nationalen Zusammenhalt innerhalb unseres Landes. Ausserdem ist das Tessin vor allem der ideale Ort, um über die Migrationspolitik im Allgemeinen und über den freien Personenverkehr im Speziellen zu diskutieren.
In den letzten Monaten – und bis vor wenigen Tagen – haben wir intensive Diskussionen geführt, um die grundsätzlichen Leitlinien einer linken Migrationspolitik festzulegen. Dabei ging es darum, einen optimalen Kompromiss zwischen Menschlichkeit und Realismus zu finden. Der damit verbundene Gedankenaustausch war teilweise heftig und emotional. Davon sind einige Punkte in die Änderungen eingeflossen, die noch zu bearbeiten sind. Ich möchte euch für dieses grosse Engagement sowie für den Mut, die Leidenschaft und die intelligente Mitarbeit danken, die ihr für die Behandlung dieser heiklen Fragen einsetzt.
Für die Linke ist Migration kein theoretisches Thema. Die SP ist die Partei der Secondos, und für viele Migrantinnen und Migranten, die sich in der Schweiz niederlassen, liegt es gewissermassen auf der Hand, dass sie sich in der SP politisch engagieren. Abgesehen von der eigenen Biografie können die meisten von uns auf die Erfahrungen zurückgreifen, die wir während eines langjährigen Engagements für Vereinigungen, Hilfswerke und Unterstützungsnetzwerke gemacht haben, welche im Bereich der Betreuung und Integration von Migrantinnen und Migranten tätig sind. Wir argumentieren alle auf der Grundlage dieser Erfahrungen und unseres früheren und derzeitigen Engagements im Migrationsbereich. Die Diskussion über diese Fragen wird daher zwangsläufig leidenschaftlicher und engagierter aber auch kompetenter als in anderen politischen Gruppierungen geführt.
Ohne einen Ausbau der flankierenden Massnahmen hat die Personenfreizügigkeit in einer Volksabstimmung überhaupt keine Chance.
Diese Diskussion mag zwar heikel sein, doch sie ist notwendig. Zunächst einmal, weil die Sozialdemokraten als grosse Volkspartei ein so brennendes Thema nicht einfach ignorieren können. Ausserdem wird die Frage des freien Personenverkehrs das bedeutendste und am meisten umstrittene Thema der nächsten Legislatur sein. Die Ausgangslage ist völlig klar, insbesondere hier im Tessin: Entweder gelingt es uns, die flankierenden Massnahmen auszubauen, Mindestlöhne einzuführen, die Baustellen zu überwachen, die Scheinselbständigkeit zu bekämpfen und eine Verantwortung der Generalunternehmen für die Arbeitsbedingungen ihrer Subunternehmer festzulegen, oder der freie Personenverkehr ist Geschichte. Ein System, bei dem eine Minderheit von skrupellosen Arbeitgebern und Grundstücksspekulanten die aus dem Wachstum resultierenden Gewinne einstreicht, während die Mehrheit der Bevölkerung ausschliesslich die negativen Auswirkungen auf ihre Arbeitsplätze, auf die Wohnungssuche und auf die Nutzung der öffentlichen Infrastrukturen zu tragen hat, können wir nicht unterstützen.
Wir sind mit einer zweifachen politischen Blindheit konfrontiert: Zum einen mit der SVP, die den freien Personenverkehr ablehnt und von der Wiedereinführung des Grenzgängerstatus träumt. Zum anderen mit der FDP und der CVP, die zwar ausländische Arbeitskräfte wollen, aber keine internen Reformen wünschen, obwohl diese im Zusammenhang mit einer verhältnismässig offenen Migrationspolitik notwendig sind. Wie lässt sich sonst erklären, dass sich die Vertreterinnen und Vertreter dieser beiden Parteien weigern, eine solidarische Verantwortung der Generalunternehmen für ihre Subunternehmer einzuführen? Wie wir sind auch sie mit einer starken Zunahme der Missbrauchsfälle konfrontiert: Maler, denen nur 8 Euro pro Stunde bezahlt werden, Monteure mit einem Stundenlohn von 10 Euro oder Maurer, die auf der Baustelle übernachten und schliesslich doch nur 2500 Franken pro Monat verdienen. Wie wir haben auch sie realisiert, dass wir es mit ganzen Kaskaden von Subunternehmen zu tun haben, in deren Rahmen ein Generalunternehmen einen Auftrag an ein zweites Unternehmen vergibt, das seinerseits eine dritte Firma beizieht, die wiederum auf ein viertes Unternehmen zurückgreift usw. Und wie wir haben auch sie festgestellt, dass Armasuisse, die Stadt Winterthur, die Stadtwerke von Zürich und Dutzende von weiteren Institutionen und Unternehmen gegen ihren Willen in Fälle von Lohndumping verwickelt wurden.
Es gibt jedoch eine einfache Lösung, um diesen Missbräuchen ein Ende zu setzen: Man muss lediglich das erste Unternehmen für die Arbeitsbedingungen seiner gesamten Kaskade von Subunternehmen verantwortlich machen. Ein solches Unternehmen ist bereits jetzt für die ordnungsgemässe Ausführung der Arbeiten verantwortlich. Weshalb soll es also nicht auch für die Löhne und die Arbeitszeiten verantwortlich gemacht werden? Das ist nur eine Frage des gesunden Menschenverstands. Doch bei den bürgerlichen Parteien wird der gesunde Menschenverstand bei diesem Punkt von der Ideologie verdrängt. Wir müssen es daher ganz klar zum Ausdruck bringen und die Parteien, die den freien Personenverkehr befürworten, unmissverständlich warnen: Ohne entschlossene Bekämpfung dieser Missbräuche und ohne Ausbau der flankierenden Massnahmen in den Bereichen Arbeit, Wohnen, Bildung und öffentliche Infrastruktur hat die Personenfreizügigkeit in einer Volksabstimmung überhaupt keine Chance. Wir fühlen uns nicht dazu berufen, Abstimmungskampagnen zu führen, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind.
Wir müssen uns auf die grosse Auseinandersetzung im Zusammenhang mit dem freien Personenverkehr vorbereiten und zusammen mit den Gewerkschaften und den Mieterinnen- und Mieterverbänden gewährleisten, dass die Linke geschlossen einige klare Forderungen aufstellt und diese anschliessend sehr bestimmt vertritt. Dies ist der Hauptzweck des Migrationspapiers. Denn wenn heutzutage von Migration die Rede ist, geht es immer auch um die Personenfreizügigkeit: Über 70 % der Personen, die in die Schweiz immigrieren, tun dies im Rahmen des freien Personenverkehrs. Um diesen Kampf zu führen, benötigen wir eure Zustimmung. Wir sind darauf angewiesen, dass ihr auf die vorgelegten Papiere eintretet und dass ihr bereit seid, mit uns zusammen zu berücksichtigen, dass zwischen der Entwicklung des Arbeitsmarkts, der Entwicklung des Wohnungsmarkts, dem Zustand unserer Infrastrukturen und der Migrationspolitik ein Zusammenhang besteht. In den meisten Fällen ist die Migrationspolitik zweifellos nicht die Ursache unserer Schwierigkeiten. Doch sie wirkt wie ein Vergrösserungsglas, das die Unzulänglichkeiten in verschiedenen Politikbereichen aufzeigt: ein Arbeitsmarkt, der zu wenig Schutz bietet, eine Bodenpolitik, die in erster Linie die grossen Immobiliengesellschaften begünstigt, und Infrastrukturen, die durch die Sparpolitik der öffentlichen Hand Schaden nehmen.
Hinzu kommt ein politisches Argument: Wir werden für unsere Forderungen nie mehr über einen so starken Hebel verfügen wie im Rahmen des freien Personenverkehrs. Die einzigen Fortschritte, die in den letzten Jahren im Bereich des Arbeitsrechts erzielt wurden, waren im Rahmen der flankierenden Massnahmen zu verzeichnen. Das ist kein Zufall – wir sollten daher sehr gut darüber nachdenken, bevor wir den von uns unterbreiteten umfassenden Ansatz im Bereich der Migration aufgeben, wie das einige von euch vorschlagen.
Eine verschärfte Gesetzgebung: Im Asylbereich werden die gesetzlichen Bestimmungen von den vermischten Meldungen beeinflusst.
Das Asylwesen hat mit dieser Frage nicht viel zu tun. Es geht dabei um den Schutz von verfolgten Menschen. Auf diese Praxis kann unser Land stolz sein, und sie muss beibehalten werden. Doch es ist auch zu berücksichtigen, dass die Zahl der Asylsuchenden nur von marginaler Bedeutung ist und auf die Gesamtbilanz der Migration keine signifikanten Auswirkungen hat. Doch es wird eine emotionale Diskussion geführt, und daher erschien es uns richtig, darauf einzugehen. Dies hat viele Reaktionen ausgelöst, mit denen wir uns gleich befassen werden. Lasst mich vorerst nur kurz unsere grundsätzliche Linie skizzieren: Unserer Auffassung nach ist es im Interesse aller, dass die Asylgesuche rascher bearbeitet werden und dass parallel dazu der Rechtsschutz für die Asylsuchenden ausgebaut wird, um das Risiko von Fehlentscheiden zu begrenzen. Nach unserer Überzeugung ist es inakzeptabel, dass Asylsuchende während vier Jahren auf einen Entscheid über ihr weiteres Schicksal warten müssen und erst dann erfahren, ob sie in der Schweiz bleiben dürfen – und sich nach vier Jahren, die sie gewissermassen im Vorzimmer der Schweiz verbracht haben, richtig integrieren können – oder das Land verlassen und in ihrem Herkunftsland eine neue Existenz aufbauen müssen.
Unserer Meinung nach ist es richtig, dass jene Menschen, die in der Schweiz bleiben, mit allen verfügbaren Mitteln dabei unterstützt werden, sich zu integrieren und ihren Platz in unserer Gesellschaft zu finden. Ebenso müssen jene Asylsuchenden, die kein Asyl erhalten, in ihr Herkunftsland zurückkehren. Unsere Partei setzt sich dafür ein – und wird dies künftig noch vermehrt tun –, dass andere Lösungen als eine zwangsweise Rückführung gefunden werden. Wir werden gleich auf diese Themen zurückkommen.
Lasst mich für den Moment eines festhalten: Im Asylbereich leidet unser Land unter einer verschärften Gesetzgebung. Bei jedem Problem und bei jeder Negativmeldung findet sich eine Mehrheit, um das Asylgesetz sofort zu revidieren oder rasch einen dringlichen Bundesbeschluss zu erlassen. Das ist ebenso absurd wie die Tatsache, dass Nicolas Sarkozy während zehn Jahren bei jeder Reise in die Provinz eine weitere Verschärfung des Strafrechts ankündigte. Philippe Müller und Christoph Blocher sind nicht so dumm, dass sie diesbezüglich Entschlossenheit und politische Propaganda verwechseln. Ihr Ziel besteht nicht darin, punktuelle Probleme zu lösen, mit denen wir konfrontiert sind – wie beispielsweise derzeit im Zusammenhang mit einigen Migranten aus dem Maghreb –, sondern sie wollen die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wach halten, weil sie damit die Hoffnung verbinden, dass sie daraus politisches Kapital schlagen können. Das ist weder verantwortungsbewusst noch ehrlich. Und es ist unserer Demokratie unwürdig.
Eine andere Wirtschaftspolitik, die auf Beschäftigung und Wachstum ausgerichtet ist
In diesem Jahr können wir ein etwas spezielles Jubiläum feiern: den vierten Jahrestag der Rettung der UBS durch den Staat. Dies gibt uns Gelegenheit, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen und die Lehren aus diesem Debakel des Finanzkapitalismus zu ziehen.
Die Analyse der Geschehnisse muss uns zu einer gewissen Bescheidenheit veranlassen. Denn die grösste Bankenkrise der Nachkriegszeit hat auf politischer Ebene keine nennenswerten Veränderungen ausgelöst, weder im Ausland noch in der Schweiz. Der Kampf für die Beschneidung der Macht der grossen Finanzinstitute wird überall weitergeführt, doch mit recht bescheidenen Resultaten.
Im Ausland mussten die Staaten ihren Banken zu Hilfe eilen, weil diese ausser Stande waren, die Folgen ihrer spekulativen Abenteuer selber zu tragen. Daraus resultierte eine massive Verschlechterung der öffentlichen Finanzen mit einer sehr stark zunehmenden Verschuldung. Die schlechtere Finanzlage der öffentlichen Haushalte veranlasste die Märkte, die Kreditkosten zu erhöhen. Dadurch verschlechterte sich die Lage der betroffenen Staaten zusätzlich. Die Ironie dieser Geschichte besteht darin, dass jene, die noch vor kurzem den Staat um finanzielle Unterstützung anbettelten, heute nicht zögern, ihm eine Lektion zu erteilen und ihm bei der Emission von öffentlichen Schuldtiteln mit exorbitant hohen Zinsen die Luft abzuschnüren.
Die Rating-Agenturen, der IWF und die Europäische Kommission verschärfen diese Krise zusätzlich, indem sie eine Vielzahl von Sparprogrammen, Privatisierungen und deutlichen Senkungen der Sozialausgaben verfügen. Vor diesem Hintergrund ist der Aufstand der Griechen, der Spanier, der Portugiesen und wohl bald auch der Italiener gerechtfertigt. Die Kontrolle der Banken über die Wirtschaft konnte nicht abgebaut werden, und zusätzlich weitet sich ihr Einfluss nun immer deutlicher auch auf den politischen Bereich aus. Wir werden, liebe Genossen und Genossinnen, unser Engagement im Rahmen der Sozialdemokratischen Partei Europas fortsetzen, damit wir eine andere Wirtschaftspolitik etablieren können, die auf Beschäftigung und Wachstum ausgerichtet ist. Im letzten Juni haben wir die Leitlinien dieser Politik an unserer Delegiertenversammlung in Basel festgelegt; wir werden diese benutzen, um die angestrebte Wirtschaftspolitik umzusetzen.
In der Schweiz bestehen bessere Voraussetzungen. Dies ist dem Umstand zu verdanken, dass sich die Nationalbank vor einem Jahr bereit erklärt hat, eine Untergrenze für den Wechselkurs des Frankens gegenüber dem Euro einzuführen. Dies erfolgte gegen den Widerstand der Bürgerlichen – was mussten wir uns in den sechs Monaten, während denen wir diese Massnahme verlangten, ohne die notwendige Unterstützung zu finden, nicht alles anhören – und trotz der Proteste von Banken und Spekulanten, von Christoph Blocher bis Oswald Grübel, denen dadurch eine bedeutende Einnahmequelle abhandenkam. Im Zusammenhang mit der Too-big-to-fail-Problematik ist es nun nach jahrelangen Anstrengungen gelungen, dass die Eigenkapitalanforderungen an die Banken erhöht wurden. Diese können nun nicht mehr von Privatpersonen, die Wohneigentum erwerben möchten, einen Eigenkapitalanteil von 20 % verlangen und gleichzeitig ihrerseits mit Mitteln spekulieren, bei denen der Eigenkapitalanteil eher in der Nähe von 2 % als von 5 % liegt. Diese Massnahmen reichen noch nicht aus, doch sie sind ein erster Schritt auf einem langen Weg, der uns in ein Umfeld führen muss, in dem nicht hochspekulative Elemente des Finanzkapitalismus, sondern die Realwirtschaft Priorität hat.
Die Macht der Banken abbauen, die Funktionsweise unserer Wirtschaft demokratisieren, den Finanzkapitalismus überwinden: Auch wenn es den bedeutenden Zürcher Medien nicht gefällt, sollen diese Konzepte nicht nur auf dem Papier bestehen. Doch nur mit Konzepten zu jonglieren und sie wie eine ewig gleiche Litanei herunterzubeten, ist auch kein Programm. Wenn wir unseren Visionen treu bleiben wollen, müssen wir sie in die Praxis umsetzen. Dies bedeutet, konkret die möglichen Fortschritte zu erzielen, wenn sich eine Gelegenheit dazu bietet und die Umstände günstig sind.
Für einen sauberen Finanzplatz, gegen das Steuerabkommen mit Deutschland
Gegenwärtig sind die Umstände günstig, um die Tätigkeiten unserer Banken neu auszurichten. Denn die Entwicklungen in der Welt beginnen heute jenen unserer Vorgängerinnen und Vorgänger Recht zu geben, die 1978 die Bankeninitiative lanciert hatten. Nach und nach wird das Bankgeheimnis aufgeweicht. Jene Banken, die unsauberen Geschäften nachgehen, befinden sich in Schwierigkeiten. Alle, die klar denken können, sind sich einig, dass die Schweiz früher oder später zum automatischen Informationsaustausch übergehen wird. Das bedeutet, dass unsere Banken den Steuerbehörden des Herkunftslandes Meldung erstatten werden, wenn ausländische Staatsangehörige ein Konto eröffnen.
In diesem Umfeld zeugt es von völliger Verblendung, versuchen zu wollen, mit Deutschland, England und Österreich eine Abgeltungssteuer als internationalen Standard einzuführen. Offensichtlich sind unsere Banken nicht fähig, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Für sie scheint es nur noch eine Maxime zu geben: ihre Führungskräfte vor jeglicher Strafverfolgung zu bewahren, koste es, was es wolle. Wie anders lässt sich verstehen, dass sie bereit sind, für die Nachbarstaaten den Steuereintreiber zu spielen? Wie sonst lässt sich erklären, dass sie in Missachtung des schweizerischen Arbeitsrechts die Namen von mehreren tausend Angestellten an die amerikanischen Behörden liefern? Und wie lässt sich verstehen, dass diese wilde Flucht fortgesetzt wird, auf der die Schweiz jedes Mal zu spät nachgibt, wenn es nichts mehr zu verhandeln gibt, statt dass sie den geordneten Rückzug aus diesem Bankgeheimnis antritt, das Schummlern, Lügnern und Betrügern als Feigenblatt dient?
Wir wollen einen sauberen Finanzplatz, nicht die Weiterführung der Hehlertätigkeit der Banken. Selbst wenn sich die Hehler nun verpflichten, bei den Betrügern Steuern einzutreiben. Wir wollen einen Finanzplatz, der den Entwicklungen in der Welt vorausschauend begegnet, keinen x-ten Versuch, schlauer zu sein als die anderen und allein gegen alle anzutreten. Das Abkommen mit Deutschland, über das wir wahrscheinlich im November abstimmen werden, beruht auf einer Strategie, die zum Scheitern verurteilt ist. Dem muss nun ein Ende gesetzt werden. Dieses Abkommen abzulehnen bedeutet, Evelyne Widmer Schlumpf zu zwingen, eine Weissgeld-Strategie einzuführen. Es bedeutet, unsere Banken zu verpflichten, sich darauf vorzubereiten, die Namen der Schummler an die Behörden des Herkunftslandes weiterzuleiten. Es bedeutet auch, Gerichtsverfahren gegen die inkompetenten Hasardeure zu ermöglichen, die mit den Grauzonen des Rechts gespielt haben. Und es bedeutet, jene der Justiz zu übergeben, die im Anschluss an die Schwierigkeiten der UBS unverfroren die Traderteams übernommen haben, die in den USA für diese Bank tätig waren. Das Abkommen mit Deutschland abzulehnen bedeutet, sich gegen die Straflosigkeit aufzulehnen: kein strafloses Davonkommen für die ausländischen Betrüger und kein strafloses Davonkommen für die Führungskräfte der Banken, die sich aktiv an der Steuerflucht beteiligen und sie als Geschäft betreiben.
Bis 2015: aus der Atomkraft aussteigen, die Banken regulieren, die flankierenden Massnahmen ausbauen, unsere Sozialversicherungen weiterentwickeln
Atomausstieg, Bankenregulierung, Personenfreizügigkeit, Reform unserer Sozialversicherungen: In den kommenden Jahren stehen wir vor immensen Herausforderungen. Nichts steht fest, doch gleichzeitig eröffnen sich Möglichkeiten, die noch vor kurzem undenkbar waren. Ich sage dies in aller Ruhe, aber mit einem gewissen Stolz: Weil wir uns nach Fukushima intelligent verhalten haben, weil wir es vorgezogen haben, im Volk und in der Politik Mehrheiten zu finden statt uns in unzähligen Initiativen und militanten Aktionen zu verzetteln, bewegen wir uns auf eine Energierevolution zu. Wird es uns nun gelingen, von den allgemeinen Zielsetzungen zu konkreten Entscheidungen überzugehen? Doris Leuthard hat bis heute kein einziges Kernkraftwerk abgeschaltet. Es liegt an uns, sie in den nächsten vier Jahren so weit zu bringen.
Die Banken waren in der Schweiz allmächtig. Darüber hinaus wird bei den Bürgerlichen immer wieder das Interesse des Landes mit jenem der millionenschweren Führungskräfte der grossen Finanzinstitute verwechselt. Wie sonst lässt sich erklären, dass uns Christophe Darbellay und Philippe Müller als Verräter behandeln, weil wir gegen das Abkommen mit Deutschland sind – fast wie in den 60er-Jahren, als man uns nach Moskau schicken wollte? Das Interesse der Schweiz mit jenem einiger Schummler zu verwechseln ist bestenfalls Inkompetenz und schlimmstenfalls Günstlingswirtschaft. Auf jeden Fall aber ist es eine Dummheit.
Wir werden diesen Banken und ihren politischen Wasserträgern strengere Regeln und ein anderes Geschäftsmodell vorschreiben müssen, das diesmal auf Ehrlichkeit beruht. Wir werden den Vorrang der Politik wiederherstellen, den Spielraum für die Spekulation einschränken und angesichts des Casinokapitalismus den Stellenwert der Realwirtschaft stärken müssen. Das ist keine leichte Aufgabe, denn unsere Gegner sitzen fest in den Sesseln der Macht. Doch zum ersten Mal eröffnen sich Perspektiven in diese Richtung: Weissgeld-Strategie, Besteuerung der Finanztransaktionen, Initiative der JUSO für ein Verbot der Nahrungsmittelspekulation – die Stossrichtungen sind vorgegeben, nun liegt es an uns, ihre Realisierung weiterzuverfolgen.
Nachdem ich mich bereits ausführlich zum freien Personenverkehr geäussert habe und nicht darauf zurückkommen werde, möchte ich noch einige Worte dazu sagen, was uns im Bereich der Sozialversicherungen erwartet. Es ist wohl niemandem entgangen, dass die Wirtschaft Druck ausübt, um die Renten zu verschlechtern. Avenir Suisse hat demografische Prognosen ausgegraben, die angeblich katastrophal sind. Damit haben die Bürgerlichen mehrfach versucht, das AHV-Alter zu erhöhen oder die BVG-Renten zu senken. Jedes Mal ist es uns gelungen, im Volk Widerstand zu wecken und den Besitzstand zu wahren.
Nachdem Alain Berset das EDI übernommen hat, kann die Sozialdemokratische Partei eine neue Seite aufschlagen. Selbstverständlich wird es wie bisher darum gehen, die Erpressungsversuche im Zusammenhang mit der Demografie zu entlarven, die von den Kreisen der Wirtschaft ausgehen. Doch gleichzeitig müssen wir die Chance nutzen, die sich uns bietet: Wir müssen unsere Modelle für den Ruhestand aktiv neu definieren, sie an die Entwicklung der Gesellschaft anpassen und erreichen, dass die Renten wieder hoch genug sind, um der einfachen Bevölkerung und dem Mittelstand den Lebensunterhalt zu sichern. Kurz gesagt, wir beabsichtigen, Mehrheiten zu finden, um unsere Sozialversicherungen zu modernisieren und weiterzuentwickeln.
Eine neu gestärkte Diskussionskultur
Liebe Genossinnen und Genossen, ihr werdet sicher verstehen, dass ich angesichts der vielen Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, gerne ein Stück des Weges mit euch zusammen gehen möchte, wenn ihr dazu bereit seid. Vielleicht habt ihr in den vergangenen Jahren bemerkt, dass ich meine Rolle und jene des Präsidiums nicht bloss als Sprachrohr der Partei sehe. Ich bin ganz im Gegenteil überzeugt, dass unsere Aufgabe in erster Linie darin besteht, wichtige Debatten frühzeitig aufzunehmen, interne Diskussionen zu führen – auch und vielleicht vor allem dann, wenn es darum geht, heikle Themen anzugehen. Manchmal ist es notwendig, gegen innen und gegen aussen zu provozieren, um Meinungen klar zutage treten zu lassen, um dezidierte Stellungnahmen zu erreichen. Ich möchte hier wiederholen, was François Mitterand einmal gesagt hat: Bei entscheidenden Prüfungen kann man das Hindernis nur dann richtig überwinden, wenn man es von vorne angeht. Bei verschiedenen Fragen habt ihr euch bereit erklärt, dass wir das gemeinsam tun: öffentliche Sicherheit, Bildung, Überwindung des Kapitalismus, Armee, Europa. Auch beim Thema Migration wird uns das gelingen, zumindest hoffe ich das.
Natürlich ist eine solche Debattierkultur, bei der zuerst hart gerungen wird und anschliessend gemeinsam der Standpunkt vertreten und verteidigt wird, medial nicht attraktiv. "Riesen-Zoff bei der SP" ist die beliebtere Schlagzeile. Wenn heute und morgen um Anträge gerungen wird und ihr euch für die eine oder die andere Kandidatin entscheidet, werden die Kaffeesatzleser nach sogenannten Richtungskämpfen suchen. Und wenn sie nicht zu finden sind, werden sie herbei geschrieben. Ich bin überzeugt, dass wir am Sonntagabend eine grosse Siegerin haben werden: unsere Partei, die wieder einmal eine Debatte gewagt und gewonnen hat, um die uns die anderen Parteien beneiden.
Diese Dialektik, diese offen ausgetragenen Debatten, in denen die Vielfalt unserer Standpunkte zum Ausdruck kommt, haben wir gewollt und auch organisiert. Sie waren nur möglich dank dem Engagement und der intelligenten Mitarbeit meiner Kolleginnen und Kollegen vom Präsidium. Einem Präsidium, das ein breites Spektrum abdeckt, mit so unterschiedlichen Standpunkten wie jenen von Cédric Wermuth, Pascale Bruderer und Stéphane Rossini, um nur die Genossinnen und Genossen zu nennen, die von ihren Ämtern zurückgetreten sind. Sie haben im Parteipräsidium die grosse Familie der Schweizer Sozialdemokratie verkörpert, mit ihren verschiedenen Strömungen, die alle ihre Berechtigung haben und alle zu unserer Identität beitragen. Es ist ihnen gelungen, sich in die Diskussionen einzubringen, aber auch, nachdem die Beschlüsse einmal gefasst waren, die Entscheidungen der Mehrheit zu respektieren und hinter ihnen zu stehen. Genau das ist es, was unsere Partei meines Erachtens braucht: eine lebendige, engagierte und mitgetragene Diskussionskultur. Und sobald die Beschlüsse gefasst sind, Sinn für das Allgemeininteresse und für das geeinte Vorgehen.
Morgen werdet ihr die neue Parteileitung wählen. Ich werde noch Gelegenheit haben, euch zu sagen, wie viel Freude es mir bereitet hat, mit meinen Kolleginnen und Kollegen im Präsidium und mit der Geschäftsleitung zusammenzuarbeiten. Wie glücklich ich bin, dass sich Marina, Jacqueline und David bereit erklärt haben, sich der Partei für eine weitere Amtszeit zur Verfügung zu stellen. Wie sehr ich mich freue, dass wir im Gegensatz zu anderen für unsere Organe keine Rekrutierungsprobleme haben, dass unter denen, die sich engagieren möchten, sogar ein gewisses Gedränge herrscht. Das ist ein gutes Zeichen, das macht Mut. Gestattet mir deshalb nun bloss noch, euch für eure Unterstützung in den letzten Jahren ganz einfach danke zu sagen – und euch einen interessanten Parteitag zu wünschen, mit engagierten, ernsthaften und spannenden Diskussionen.