Es ist kein Zufall, dass ich heute vor einer Berufsschule stehe und zu euch spreche. Jahrzehntelang war die Lehre in der Schweiz der Schlüssel für eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt. Sie garantierte einen anständigen Lohn und bot die Aussicht auf eine sichere Beschäftigung. Die gemeinsame Botschaft der Wirtschaft, der Politik, der Lehrerschaft und der Eltern an die jungen Leute war klar: «Wenn Du eine Lehre machst, kommst Du gut durchs Leben.» Das war nicht nur eine Botschaft, sondern ein Versprechen.

Dieses Versprechen wurde längst gebrochen. Mehr als 450'000 Angestellte in unserem Land – darunter 140‘000 mit einem Lehrabschluss – verdienen weniger als 4000 Franken im Monat. Und seit 10 Jahren stagnieren die Löhne der Mittelklasse in unserem Land. Die Personen mit einem Lehrabschluss mussten gar Lohneinbussen in der Höhe von nominal 0,4% in Kauf nehmen. Eine Berufslehre garantiert heute also längst kein sorgenfreies Leben mehr. Und noch weniger kann sie garantieren, dass Familien in Würde über die Runden kommen.

Angesichts dieser Tatsachen zuckt unser Volkswirtschaftsminister rat- und hilflos mit den Schultern. Die Arbeitgeber geraten in Panik. Die FDP bläst zur Jagd auf Missbräuche und will die Asylpolitik verschärfen. Der Bundesrat schliesslich betreibt Augenwischerei und aktiviert die Ventilklausel. Nennen wir die Dinge beim Namen: Die bürgerlichen Eliten verteilen tonnenweise Valium und hoffen so, die Wut der Bevölkerung zu besänftigen.

Doch die Menschen in unserem Land, denen ich tagtäglich begegne, wollen nicht beruhigt werden. Sie wollen Lösungen. Sie wollen sich wieder auf ein Versprechen, das man gibt, verlassen können. Und die Lösungen dafür liegen bereit: Lasst uns in aller Deutlichkeit JA zur 1:12-Initiative sagen und die Saläre eines kleinen Kartells von Managern begrenzen. Lasst uns gesetzliche Mindestlöhne einführen, damit sichergestellt ist, dass niemand in der Schweiz weniger als 4000 Franken verdient. Lasst uns die Gesamtarbeitsverträge auf andere Branchen ausdehnen. Alle Angestellten in unserem Land sollen von Lohnerhöhungen profitieren, die mindestens der Rentabilität der Betriebe entsprechen. Lasst uns die AHV-Renten aufbessern, denn Jung wie Alt sollen anständig leben können.

An diesem 1. Mai kämpft die Linke für ihre ureigenen Anliegen: bessere Löhne, höhere Renten. Und all jene Bürgerlichen, die zugelassen haben - aus Habgier, aus ideologischen Gründen oder ganz einfach aus Faulheit -, dass sich die Lage derart verschärfen konnte, sollten endlich etwas unternehmen. Sie wären gut beraten, uns dabei zu helfen, eine minimale Lohngerechtigkeit wieder herzustellen und den Menschen bessere Perspektiven zu bieten.

01. Mai 2013