Die Nachricht vom Tod Esther Bührers hat mich tief betroffen und in Trauer versetzt. Esther und ich wurden 1979 beide überraschend in den Ständerat gewählt. Sie als erste Frau im Kanton Schaffhausen, ich als erster Sozialdemokrat im Kanton Freiburg. Mit Esther Bührer verliert die SP eine grosse Kämpferin für soziale Gerechtigkeit, eine intakte Umwelt und eine diskriminierungsfreie Gesellschaft.

Im Gegensatz zu mir brachte Esther bereits viel politische Erfahrung mit nach Bern, von der ich stark profitieren konnte. Dies auch deshalb, weil wir gemeinsam in der vordersten Reihe am Zweierpult auf der Ostseite des Ständeratssaals sassen. Esther war eine aussergewöhnliche Politikerin und der damaligen Zeit weit voraus. Wer heute ihre Voten und Vorstösse studiert, wird dies in hohem Masse bestätigt erhalten.

Esther kämpfte gegen die Atomenergie – speziell gegen das geplante Kernkraftwerk Kaiseraugst – und machte auf mögliche Katastrophen und das ungelöste Abfallproblem aufmerksam. Sie warnte vor der steigenden Luftverschmutzung und forderte Massnahmen für eine umweltverträgliche Mobilität und eine rasche Einführung des Katalysators mit dem Verbot verbleiten Benzins.

Das Waldsterben nahm sie nicht hin und verlangte eine wirksame Reduktion der schädlichen, auch von Ölheizungen produzierten Abgase. Damals fanden solche Forderungen im Ständerat kaum je eine Mehrheit. Heute wären sie wohl alle mehrheitsfähig oder sind bereits umgesetzt. Esther war eine Visionärin, die sich nie entmutigen liess. Manchmal nach einer Debatte sagte sie mir: «Da haben wir wieder einmal Perlen vor die Säue geworfen.»

Soziale Gerechtigkeit und die Gleichstellung der Frau lagen ebenfalls zuoberst auf ihrer politischen Traktandenliste. Bei den Revisionen des Steuerrechts und des Eherechts forderte sie die ausnahmslose Gleichstellung von Mann und Frau. So sollte die unterschiedliche Steuerbelastung von Ehepaaren und Konkubinatspaaren beseitigt und Ehemann und Ehefrau in der Steuererklärung gleichberechtigt erfasst werden, inklusive Doppelunterschrift. Im Eherecht schlug sie schon damals die freie Wahl des Familiennamens vor. Alles Forderungen, die heute weitgehend erfüllt sind, aber damals noch keine Mehrheit fanden.

Esther Bührer vertrat all diese Forderungen immer sehr sachlich, ruhig, mit viel Sachkenntnis und Kompetenz. Mit ihrer Beharrlichkeit, ihrer Gradlinigkeit und ihrer besonnenen Art im Argumentieren schuf sie sich in der kleinen Kammer hohen Respekt und Beliebtheit. So wurde sie als erste Sozialdemokratin ins Büro gewählt, mit dem Ziel, 1992 als erste Frau zur Ständeratspräsidentin gewählt zu werden. Für uns alle überraschend trat sie nach drei Perioden 1991 nicht mehr zur Wahl an.

Aus familiären Gründen verzichtete sie auf diese wohlverdiente Ehre. Obwohl wir engsten politischen Weggefährten diesen Verzicht nur schwer akzeptieren konnten, zeugte er von einer grossen Charakterstärke und einer vorbildhaften Gradlinigkeit. Ich versuchte erfolglos, sie für eine erneute Kandidatur zu überzeugen und wurde dann an ihrer Stelle 1992 zum Ständeratspräsidenten gewählt – und Esther kam mit einem strahlenden Lachen an meine Wahlfeier nach Freiburg. Welch eine Persönlichkeit!

Esther Bürer ist am 1. August 2020 im Alter von 94 Jahren verstorben. Wir werden sie mit grosser Dankbarkeit in bester Erinnerung behalten.

Otto Piller, alt Ständerat FR und ehemaliger Direktor BSV

Das Bild zeigt Esther Bührer in den Jahren zwischen 1983 und 1987. Dies war die 2. gemeinsamen Legislaturperiode mit Otto Piller, der vorne neben Esther Bührer sitzt. Hinten links erkennt man René Meylan, SP Neuenburg, und rechts Robert Ducret, FDP Genf.

18. Aug 2020