Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und in der Folge das Bundesgericht haben festgestellt, dass sowohl im schweizerischen Unfallversicherungsgesetz als auch im Invalidengesetz keine ausreichende gesetzliche Grundlage für die Observation von Versicherten vorhanden ist. Daraufhin mussten die Observationen eingestellt werden. Im Schnellzugstempo hat das Parlament eine neue gesetzliche Grundlage geschaffen. Das Tempo, aber auch der Druck durch die Versicherungslobby haben der Qualität der Vorlage massiv geschadet.

Das Gesetz ist sehr schlecht formuliert. Statt der notwendigen gesetzlichen Klarheit wurden Formulierungen gewählt, die der Interpretation Tür und Tor öffnen. In erster Linie gilt das für die Bestimmung, welche definieren soll, wo die Versicherten observiert werden können. Gemäss Wortlaut des Gesetzes ist dies nicht nur im öffentlichen Raum, sondern auch an Orten möglich, welche von einem allgemein zugänglichen Ort aus frei einsehbar sind.

Seit Wochen wird darüber gestritten, ob damit auch Aufnahmen in private Räume möglich sind. Eine stattliche Zahl von Rechtsgelehrten ist sich einig: Der Wortlaut der Bestimmung verbietet dies nicht eindeutig. Wie dereinst die Gerichte in dieser Frage entscheiden, kann niemand sagen. Eines ist aber klar: Der Gesetzgeber hat ganz bewusst diese Formulierung gewählt. Wenn er den Ort der Observation hätte einschränken wollen, hätte er es tun müssen.

Besonders störend ist die Tatsache, dass Versicherungen selber entscheiden, wer observiert werden soll. Versicherungen sind bei allfälligen Streitigkeiten nicht neutral, sondern Partei. Dass sie allein und ohne Konsultation von unabhängigen Personen darüber entscheiden dürfen, ob Versicherte observiert werden, verstösst gegen rechtsstaatliche Prinzipien. Nicht einmal die Polizei hat derart viel eigenständige Kompetenzen.

Starker Eingriff in die Privatsphäre

Es muss festgehalten werden, dass Observationen ein starker Eingriff in die Privatsphäre sind. Es bedeutet, dass jemandem systematisch gefolgt und beobachtet wird, und dass von ihm (und allfälligen unbeteiligten Dritten) Bild- und Tonaufnahmen gemacht werden. Unsere Privatsphäre ist aber durch die Verfassung sowie die Europäische Menschenrechtskonvention geschützt. Es muss sehr gut abgewogen werden, wann und wie dieser Schutz nicht mehr gilt. Diese Sorgfalt ist in unser aller Interesse.

Im Abstimmungskampf ist häufig zu hören, dass nur diejenigen etwas zu befürchten haben, die unehrlich sind und etwas verbergen wollen. Das würde dann zutreffen, wenn jede Observation einen Betrug zu Tage fördern würde. Das ist aber nicht der Fall. Im Jahr 2016 wurde ein Drittel aller Observationen, welche durch die IV gemacht wurden, zu Unrecht durchgeführt. Damit wurden in 90 Fällen Personen über einen längeren Zeitraum observiert, es wurde Filmmaterial erstellt und Gespräche wurden aufgenommen. Es wurde also tief in die Privatsphäre hinein geschnüffelt und spioniert. Und dies zu Unrecht.

Wer jetzt meint, dies betreffe ihn sicher nicht, weil er oder sie keine IV-Rente oder Leistungen der Unfallversicherung beziehe, der täuscht sich. Gemäss der neuen Gesetzesbestimmung können sämtliche Sozialversicherungen selbstständig Observationen durchführen oder durchführen lassen: also auch die Arbeitslosenversicherung, die Ergänzungsleistungen oder Krankenkassen.

Missbrauch gehört aufgedeckt und hart bestraft. Das wird von niemandem bestritten. Auch nicht von den GegnerInnen der Vorlage. Jedoch muss die gesetzliche Grundlage für allfällige Observationen hieb- und stichfest sein. Es bestehen sehr starke Zweifel, ob der vorliegende Gesetzestext den Kriterien genügen würde, die der europäische Gerichtshof für Menschenrechte vorgegeben hat. Somit ist nicht auszuschliessen, dass die Schweiz für den gleichen Sachverhalt erneut gerügt werden könnte. Das wäre ein Armutszeugnis für unser Parlament.

Wenn das Parlament Observation von Versicherten zulassen will, dann müssen die Grenzen und Anforderungen klar und eindeutig definiert sein. Das sind sie in dieser Vorlage nicht.

13. Nov 2018