An ihrem Sonderparteitag vom 4. März 2000 verabschiedete die SVP ein Positionspapier zu den Sozialwerken. Sie forderte darin eine „Abkehr vom Umlage- zum Kapitaldeckungsverfahrung bei der AHV“, die „Privatisierung von Sozialversicherungen“ und den „Übergang zur freiwilligen, individuellen Vorsorge für Alter, Krankheit und Invalidität“(NZZ vom 27.5.2003). Nichts anderes also als die Zerschlagung der Solidarität bei der Altersvorsorge und damit die Abschaffung der AHV. Die Partei stand damals nicht etwa alleine. Es war vielmehr die hohe Zeit der neoliberalen Ideologinnen und Ideologen.
17 Jahre später steht die Schweiz mit der Altersreform 2020 vor einer Gewichtsverlagerung von der 2. in die 1. Säule. Genau das Gegenteil dessen, was Blocher und Konsorten wollten. Der jetzt diskutierte Vorschlag des Ständerates ist ein entscheidender Sieg gegen die neoliberalen Hardliner. Zwar sieht das Konzept eine Senkung des Mindestumwandlungssatzes von 6.8% auf 6% bei den Pensionskassen vor. Dem steht aber die erste Rentenverbesserung in der AHV seit 20 Jahren gegenüber sowie die erste generelle Rentenerhöhung für Neurentnerinnen und Neurentner seit 40 Jahren. Die AHV-Renten steigen zwischen 3-6% oder 840 Franken pro Einzelperson und Jahr, resp. bis zu 2712 Franken pro Jahr für Ehepaare. Diese Erhöhung kompensiert die schmerzhafte Senkung des Umwandlungssatzes in der 2. Säule. Erstmals seit 1975 werden die Lohnbeiträge für die AHV erhöht (um 0.3%). Das ist ein verteilungspolitischer Fortschritt, da die Beitragspflicht auf alle Lohnanteile besteht (also z.B. auch Manager-Boni), während die Maximalrenten gedeckelt sind. Das kommt de facto einer Steuererhöhung für hohe Einkommen gleich. Politisch steht das Parlament damit erstmals seit Beginn der neoliberalen Welle davor, die ökonomische Überlegenheit des Umlageverfahrens der AHV gegenüber dem Kapitaldeckungsverfahren in der Pensionskasse zu akzeptieren. Das ist ein nicht zu unterschätzender Schritt und ein herber Schlag für Banken und Privatversicherungen.
Das war nicht gratis zu haben. Dazwischen liegen 15 Jahre beinharte politische Arbeit der Gewerkschaften und der Linken, zuletzt rund um die AHVplus-Initiative. Tatsächlich verlangt der Kompromiss des Ständerates auch von der Linken eine grosse Kröte zu schlucken: Das Rentenalter 65 für Frauen. Diese Erhöhung ist zweifellos ökonomisch sowie gleichstellungspolitisch falsch. Die Ständeratsvariante kompensiert diese bittere Pille aber am richtigen Ort: Mit dem Ausbau der AHV. Die Reform ermöglicht es den Frauen, mit weniger Verlust als bisher ab 62 in Rente zu gehen. Tatsächlich sind die Frührenten ab 63 sogar höher. Frauen, die weniger als 38'000 Franken verdienen, werden dank dem Zuschlag auch weiterhin mit 64 ohne Verlust gegenüber heute in Pension gehen können. Es ist lächerlich, wenn sich FDP und SVP jetzt als Verteidiger der Frauen aufspielen wollen. Auch im Modell von FDP und SVP kommt das Rentenalter 65 für Frauen. Allerdings will das Modell der Mehrheit im Nationalrat höhere Abzüge für die 2. Säule und die vollständige Abschaffung des Koordinationsabzuges. Dieser Vorschlag ist krass klassenblind. Den 500'000 erwerbstätigen Frauen, die heute keine Pensionskasse haben, bringt er ausser einem zusätzlichen Jahr Arbeit nichts. Gleiches gilt für Teilzeit arbeitenden Frauen in Tieflohnbranchen, also vor allem Migrantinnen. Sie erhielten zwar wie beim Ständeratsmodell höhere Renten Die Lohnabzüge dafür würden im Vergleich zum Ständerat aber geradezu explodieren, ihre Kaufkraft würde enorm leiden.
Zusammengefasst stehen in der Variante Ständerat der Erhöhung des Frauenrentenalters folgende Vorteile gegenüber:
- Kompensation der Senkung des Umwandlungssatzes durch zusätzliche 840 Franken AHV für Einzelpersonen, resp. bis zu 2712 Franken für Ehepaare.
- Besitzstandsgarantie für alle PK-Versicherten über 45 Jahre. Das heisst, die Rente dieser Leute verbessert sich mindestens um 840 Franken.
- Die Senkung des Koordinationsabzuges verbessert die Absicherung der Teilzeitarbeit in der zweiten Säule, ohne übermässig die Kaufkraft zu schmälern.
- Der Rentenanspruch bleibt neu auch bei Stellenverlust nach 58 bestehen.
- Die zusätzliche Belastung für die AHV durch die Babyboomer-Generation wird ausfinanziert.
- Erleichterungen für die Teilpensionierung: Tiefere Kürzungssätze für den Vorbezug der AHV-Renten. Bis zu einer Rente von ca. 1'700 Franken kann diese Kürzung mit dem AHV-Zuschlag ausgeglichen werden.
- Der Bundesrat und die Rechte wollten die Teuerungsanpassung der AHV-Renten streichen. Das ist vom Tisch.
- Witwen- und Kinderrenten bleiben erhalten (das will der Nationalrat nicht).
- Das allgemeine Rentenalter 67 ist vom Tisch.
- Die Tabus der Rentenerhöhung in der AHV und zusätzlicher Lohnbeiträge sind gefallen.
Völlig absurd ist schliesslich die Behauptung von rechtsbürgerlichen Kreisen, die Erhöhung der AHV-Renten gehe auf Kosten der jungen Generation. Erstens profitieren wir Jungen jeden Tag enorm von der gesellschaftlichen Aufbauleistung unserer Eltern und Grosseltern. Zweitens käme eine Lösung nach bürgerlichen Wunschvorstellungen die Jungen viel teurer. Wir müssten viel mehr Geld für die Pensionskassen ausgeben, ohne dass uns irgendwer ein späteres Rentenniveau garantieren kann. Fakt ist: Die AHV kommt alle Leute mit tiefen und mittleren Einkommen viel günstiger zu stehen. Das gilt auch für alle Jungen.
Für die politische Beurteilung scheint uns neben der generellen Ausrichtung der Ständeratsvariante und der effektiven Verbesserung der Renteneinkommen gegenüber dem Status quo auch der Blick auf die politische Alternative nicht unwesentlich. Tatsache ist: Ein Referendum und ein Nein an der Urne zur ständerätlichen Variante würde in keiner Form die Erhöhung des Frauenrentenalters verhindern. Vielmehr wäre es der Startschuss für eine neue Kampagne von rechts für das Rentenalter 67 und für Rentenkürzungen. Die AHV dürfte vorübergehend wohl negative Umlageergebnisse einfahren. Das ist zwar ökonomisch kein Drama, würde der politische Druck aber rasant zunehmen lassen. Und mit Sicherheit würde das Parlament in einer zweiten Auflage die 1. und die 2. Säule wieder entkoppeln. Das Resultat wäre eine Neuauflage der Revision der Altersvorsorge, die die Ungleichheit im Alter verstärken und die Frauen, die Migrant_innen und die Jungen an den Rand drängen würde. Unter dem Strich stimmt die Reform, wenn sich SP, Grüne, CVP und die vernünftigen Teile des Parlaments durchsetzen und dem ständerätlichen Vorschlag folgen.
Wir gehören nicht zu jenen, die aus einem falschen Verantwortungsbewusstsein jeden parlamentarischen Kompromiss mittragen, einfach weil es ein Kompromiss ist. Wir gehören definitiv nicht zu jenen, die meinen, Partei- und Gewerkschaftsbasis müssen in jeder Vorlage der Weisheit der Fraktion folgen. Das ist nicht unser Verständnis linker Politik, im Gegenteil. Genauso falsch ist aber ein Radikalismus vor den Fakten. Eine Vorlage abzulehnen, nur weil sie ein Kompromiss ist.