Liebe Genossinnen und Genossen
Als Student bin ich zwischen Luzern und Zürich gependelt. Zug war ein kleines, schmuckes Landstädtchen und der Kanton Zug tiefschwarze Innerschweiz, ländlich geprägt und ganz in den Händen der Katholisch-Konservativen. Es gab zwar Industrie: In Zug vis-à-vis des Bahnhofs die grosse Landis & Gyr, die bis in die 50er Jahre reformierten Zürcher Familien gehörte; auch die „Metalli“ und die Verzinkerei. Aber als Industriestadt oder gar Industriekanton wollte man sich nicht verstehen.
Zug ist inzwischen an allen vorbeigezogen. Es ist der mit Abstand finanzkräftigste Kanton der Schweiz – zweieinhalb mal so potent wie der Durchschnitt der Schweizer Kantone. Angenommen, der Steuerwettbewerb der Kantone wäre ein Hundert-Meter-Lauf: Zug würde vierzig Meter vor dem Zweiten, dem Kanton Schwyz, über die Ziellinie schiessen. Zürich befände sich knapp in der Mitte, und der schwächste Kanton, Uri, hätte noch keine 25 Meter zurückgelegt. Woher diese Finanzkraft kommt? Bei Einführung des nationalen Finanzausgleichs sind im Kanton Zug auf jede Einwohnerin und jeden Einwohner 96’000 Franken an steuerbaren Unternehmens-Gewinnen entfallen. Der Kanton Zürich kam auf einen Siebtel, auf 13'000 Franken, und der Schweizer Durchschnitt lag bei einem guten Zehntel, bei 10'000 Franken. Natürlich sind deshalb auch die Einkommen höher. Man sehe es auf den Strassen, heisst es. Nirgends gebe es so viele Bentleys, Porsches und Maseratis wie in Zug.
Kurz: Zug ist von einem Durchzugsort zwischen Zürich und Luzern zu einem Global Center geworden. Zur Spinne im Netz, welche die Fäden im globalen Grosshandel zieht; zu einem Headquarter-Standort mit Unternehmens-Dienstleistungen; zu einer internationalen Verkaufs- und Marketing-Drehscheibe für Lifesciences-Produkte. Und es ist weiterhin ein Industrieort mit Spitzentechnologien bei elektronischen und Laborgeräten.
Warum rede ich von dieser Erfolgsgeschichte am 100-Jahr-Jubiläum der SP Zug? – Sie hat eingesetzt ungefähr zur gleichen Zeit, als auch die SP Zug gegründet wurde. Damals war Zug das Armenhaus der Schweiz. Obwohl die SP dank des Proporzes ab den zwanziger Jahren in der Regierung sass, lässt sich nicht behaupten, die Steueroase Zug sei eine SP-Erfindung. Die Steuerprivilegien für ausländische Firmen, für Domizil-, Holding- und gemischte Gesellschaften, die Steuerpauschalen für reiche ausländische Privatpersonen und besondere Steuerabzüge für Expats – weil Wohnungen und Privatschulen in Zug ja so teuer sind – sind nicht auf SP-Mist gewachsen. Die SP hat sich für Bildung und Bibliotheken und den 8-Stunden-Tag, für die AHV, das Frauenstimmrecht und preisgünstige Wohnungen, für die Natur, die Umwelt und eine vernünftige Verkehrs- und Siedlungsplanung stark gemacht, kurz: als Minderheit am politischen Rand für die Anliegen der Mehrheit.
Zug entwickelt Zug. Es ist attraktiv. Der attraktivste Wirtschaftsstandort in der Schweiz, wie die Ratings von CS und UBS wissen. Zug ist für viele ein Beleg dafür, dass, wenn es den Reichen gut geht, es auch den anderen gut gehe. Das gilt, und auch nur sehr beschränkt, für die Steueroase selbst, und vielleicht für ein paar Bergregionen, die vom Finanzausgleich profitieren. Aber verallgemeinern lässt sich eine Nischenpolitik nicht: Man wächst ja auf Kosten und statt der anderen. Verallgemeinert führen Steueroasen zu einem „race to the bottom“. Mit Bruchlandung! Der Staat und seine Institutionen bluten aus. Bildung, Grundlagenforschung und Infrastruktur werden zwangsläufig in Mitleidenschaft zogen; der soziale Ausgleich heruntergefahren und gestrichen. Ob diese Gesellschaft Zukunft hat?
Abgesehen davon gerät die Nischenpolitik immer mehr unter Druck. Darum wächst ja auch der Druck auf die Schweiz. Das Bankgeheimnis gibt es den grossen Blöcken gegenüber praktisch nicht mehr: für die USA und bald auch für die EU ist es ausgehebelt. Die Sondersteuern für ausländische Unternehmungen – die so viel zum Aufstieg von Zug beigetragen haben – werden gegenwärtig aufgehoben. Deshalb läuft gerade die Unternehmenssteuerreform III. Sie wird uns, und das meint: die Bürgerinnen und Bürger, Milliarden kosten.
Auch in der Schweiz steigt die Skepsis gegenüber der Nischenpolitik. Sogar im Kanton Zug! In einem knappen Jahrzehnt, von 2001 bis 2010, ist die Zahl der Beschäftigten um rund einen Viertel gewachsen, dreimal so stark wie im Schweizer Durchschnitt. Immer mehr Zugerinnen und Zuger fragen sich, wohin dieses Wachstum führt? Wem es nützt, wenn auch die Coca-Cola Griechenland ihren Sitz nach Zug verlegt. Zu wachsen und immer weiter zu wachsen kostet Landschaften, Freiräume, drückt auf die Bodenpreise und die Mieten, verdrängt jene, die schon immer da waren, verändert die Gesellschaft so, dass sie immer mehr an Identität einbüsst.
In den anderen Kantonen wird sich die Diskussion um die Steueroasen erst recht zuspitzen. Es sind die Normalverdienenden, welche die Unternehmenssteuerreform, die dritte bereits, zu verkraften haben. Sie haben die Steuerausfälle wettzumachen sowie das Schrumpfen des Finanzausgleichs, weil die Steuern der juristischen Personen sinken. Sie haben die fatalen Folgen im Finanzhaushalt jener Kantone zu tragen, die keinen oder wenig Spielraum besitzen. Sie bezahlen: mit Steuererhöhungen – unter anderem soll die Mehrwertsteuer angehoben werden; mit einem weiteren Anstieg von Prämien und Gebühren; mit der Ausdünnung des Service public usw. Je mehr sie zahlen, umso mehr werden sie sich fragen, ob ihnen ein Steuersystem, bei dem die Reichsten, sowohl bei den Kantonen als auch bei den Bewohnern, immer reicher werden und die andern immer mehr abfallen, ob ihnen dieses System der kantonalen „Steuerkonkurrenz“ solche Belastungen wert ist; ob der Zuzug von Leuten und Firmen, die möglichst keine Steuern zahlen wollen, unter dem Strich tatsächlich etwas bringt; wem Steuerprivilegien für die Reichen nützen und wem sie eher schaden.
Wer könnte diese Diskussionen unbefangener führen als die SP? Sie gehört nicht zum Klüngel. Sie ist unter den traditionellen Parteien die einzige, die Gesetze nicht nur als „Beschränkung“, sondern als „Ermächtigung“, den Staat nicht als „Übel“, sondern als wichtige gemeinsame Aufgabe und Garant der Freiheit begreift. Die anderen haben sich ideologisch hinter dem zwar seltener zitierten, aber umso mehr gelebten „Mehr Freiheit, weniger Staat“ verbarrikadiert. Vor allem aber ist die SP jene Partei, die sich seit jeher nicht für Eliten und goldene Nischen, sondern für das Gros der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die breite Bevölkerung, deren Wohl, deren Wohnen, deren Umwelt und deren Zukunft einsetzt.
Vor 125 Jahren, bei der Gründung der SP Schweiz, haben unsere Parteigründer den Ball sehr hoch gespielt: Es ging ihnen um nichts Geringeres als darum, „auf friedlichem Weg eine neue Zivilisationsstufe zu erklimmen“. Es ging ihnen um eine Gesellschaft, die das Erbe der Aufklärung, die Versprechen der französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit und Solidarität, für alle in die Tat umsetzt.
Wir leben nicht in einer Zeit grosser programmatischer Entwürfe. Im Gegenteil! Mit der Globalisierung ist der Gestaltungspielraum für die Nationalstaaten kleiner geworden. Die bürgerliche Politik versteht sich – nach neoliberalem Credo – zunehmend nur als Erfüllungsgehilfin oder eilfertige Dienerin wirtschaftlicher Interessen. Sozial- und umweltpolitische Anliegen bleiben auf der Strecke. Wer sich am Status quo festkrallt, braucht auch kein Programm. Anders aber, wer die Zukunft gestalten will. Er kommt ohne Denk- und Zielrichtung nicht aus.
Darum müssen wir uns fragen, gleich wie wir vor 100 und 125 Jahren fragten: Was für eine Gesellschaft wollen wir?
Wollen wir eine Gesellschaft egoistischer Einzelner, in der jede oder jeder nur an sich denkt, alles für sich beansprucht, aber nichts daran beisteuern und dafür tun will?
Eine gated community mit Zugang nur für Reiche, die nicht unglücklich sind, wenn die Bodenpreise steigen – weil der Boden ja ihnen gehört und sie so unter sich sind?
Wollen wir eine reiche Gesellschaft mit reicher Beschäftigung und reichen Einwohnern – und mit Arbeitsbienen, die am Morgen, am Abend und selbst in der Nacht aus den Nachbarkantonen heranschwirren, um den reichen Kanton mit allem Nötigen und Wünschbaren zu versorgen?
Oder wollen wir, durchaus in einer zusammenwachsenden Agglomeration, eine soweit wie möglich durchmischte Gesellschaft von Bürgerinnen und Bürgern, die zusammen arbeiten und wohnen, die Freizeit verbringen und vielleicht sogar politisieren, sich ihrem Ort und ihrer Gesellschaft verpflichtet fühlen und sich für das, was sie richtig und gut finden, engagieren?
Wohlverstanden, es geht hier um mehr als nur ums Wünschen. Es geht um Weichenstellungen, um Werthaltungen und die Anreize, die unsere Gesellschaft setzt.
Entscheidend für jeden Gesellschaftsentwurf ist, wie er den Einzelnen sieht und seine Freiheit fasst. Ist es eine Freiheit, an welche die Gesellschaft grundsätzlich nichts beitragen kann und soll? Eine möglichst schrankenlose Freiheit, zu tun und zu lassen, was man will. Die Freiheit des Haies auf freie Jagd und freie Beute. Eine Freiheit in erster Linie vom Staat, vor staatlicher Einmischung und gesetzlicher Regelung.
Oder ist es eine Freiheit, die nicht einfach besteht; die heranwachsen muss, möglichst nicht nur bei Einzelnen, sondern in der Breite. Eine Freiheit, die man fördern und ermöglichen muss? Der Staat in Bildung und Kultur. Die Gesellschaft durch Einbezug und Beteiligung. Indem sie, ohne Unterschied nach Herkunft, Klasse, Geschlecht, alle zu eigenständigem Urteil und autonomer Lebensführung befähigt. Selbstverständlich schliesst solche „Ermächtigung“ auch Sozialkompetenz ein. Weil die Freiheit nicht blind und autistisch sein soll, sondern Einfühlung und Rücksichtnahme kennen muss.
Das Lackmuspapier für jeden Gesellschaftsentwurf ist die Haltung zum Postulat der Gleichheit. Beschränkt sie sich auf eine kalte Gleichheit vor dem Gesetz? Diese hat Schlagseite. Denn in einer ungleichen Gesellschaft, in welcher die einen vor allem Rechte und die anderen Pflichten haben, steht sie zwangsläufig auf Seite jener, welche Rechte haben und Rechte durchzusetzen wissen.
Oder schliesst Gleichheit auch gleiche Lebenschancen ein? Nicht Tea-Party-like ein „Recht auf Leben“, das nichts anderes meint als ein Abtreibungsverbot und jeden Anspruch auf medizinische Behandlung und ein Existenzminimum verneint. Die Forderung „gleicher Lebenschancen“ zielt auf einen Ausgleich und eine Angleichung der Lebens- und Handlungsbedingungen, damit, unabhängig von Klasse, Geschlecht, Herkunft, alle möglichst die gleichen Startchancen haben und sich einen fairen Anteil an den Früchten dieser Gesellschaft sichern können. – Gleiche Lebenschancen sind Grundlage jeder offenen Gesellschaft.
In der französischen Revolution hat man sich nicht mit Freiheit und Gleichheit begnügt, sondern auch Brüderlichkeit gefordert. In unserer Partei würden wir die Brüderlichkeit heute wohl in der Schwesterlichkeit „mitmeinen“. Oder greifen wir zurück auf die Arbeitergeschichte und reden wir von Solidarität! Da liegt auch die „internationale Solidarität“ schon auf der Zunge. So soll es auch sein, denn der Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben kommt – in bester christlicher Tradition – allen Menschen und nicht nur den Mitgliedern der eigenen Sippe oder Gesellschaft zu.
In einer globalisierten Welt ist internationale Solidarität nicht allein ein Anliegen der Moral, sondern auch eine politische Notwendigkeit. Sie muss innerhalb jeder einzelnen Gesellschaft, aber ebenso wichtig, ja zwingend, im Zusammenschluss der einzelnen Gesellschaften gelebt und gewährleistet werden. Weil, wer sich in der globalisierten Welt noch Gestaltungskraft zutraut, seine Definitionsmacht im überstaatlichen Zusammenschluss sichern muss. Kurz, und doch kein Kurzschluss: Wer in der globalisierten Welt seine Interpretation von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit offenhalten will, kommt nicht darum herum, sich auf europäischer Ebene zu engagieren. „Ein soziales Europa zu schaffen, das sein Gewicht in die kosmopolitische Waagschale wirft“, wie es Jürgen Habermas vor dem „Kulturforum der Sozialdemokratie“ formuliert hat.
Steueroasen und Nischenpolitik sind im Gegensatz dazu die Einladung an eine globalisierte Wirtschaft, sich der nationalstaatlich organisierten Solidarität und ihren Mindeststandards zu entziehen, und der Versuch, die überstaatliche Einbindung der flüchtigen Wirtschaft in soziale Standards zu unterminieren.
Liebe Genossinnen und Genossen
Wir haben das Erbe der Aufklärung, die Postulate von Freiheit, Gleichheit und Solidarität, in unserer hundert- und hundertfünfundzwanzigjährigen Geschichte immer wieder programmatisch auf die Herausforderungen der Zeit hin verdeutlicht und konkretisiert. Wir lassen dieses Erbe nicht los. Wir wollen gestalten – und trauen es uns zu!