Wie haben Frauen die Einführung des Stimm- und Wahlrechts erlebt? Welche Bedeutung hatte dies für sie? Und was ist ihnen in der Gleichstellung heute wichtig? Wir haben drei Persönlichkeiten mit ganz unterschiedlichem Hintergrund gefragt.

Hedy Burgener, erste Urner SP-Landrätin und Vorkämpferin der Alpeninitiative

«1969 sah ich Emilie Lieberherr in Bern. Ich war Feuer und Flamme. Was für eine Persönlichkeit! In ihrem roten Mantel beherrschte sie den Bundesplatz. Mit Trillerpfeifen verschafften wir uns Gehör, doch keiner der Herren im Bundeshaus hielt es für nötig, auf den Platz rauszukommen und mit uns zu diskutieren. Wir wollten endlich das Stimm- und Wahlrecht. Und seit wir es haben, habe ich keine einzige Wahl oder Abstimmung verpasst.

Politik wurde in der Beiz gemacht. Dort durften Frauen servieren, dienen und blöde Sprüche anhören. Das Weltbild konservativer Männer war bestimmt durch Wilhelm Tell, die Wehrpflicht und die Grenzbesetzung. Doch auch gewisse Frauen waren gegen das Frauenstimmrecht. Sie waren häufig mit einflussreichen Männern verheiratet. Es hiess dann «Isch das jetzt nötig?».

Es war dringend nötig. Frauenrechte sind Menschenrechte. So wurden die gleichen Rechte für Mann und Frau 1981 von den Frauen angenommen. Die Hälfte der Männer stimmte dagegen.

Ich bin auf einem liberalen Bauernhof im Luzerner Hinterland aufgewachsen. Unangefochtene «Chefin» war die Grossmutter. Als gelernte Köchin arbeitete ich dann lange im Kolping in Luzern. Ich bin sozial und bescheiden. Vielleicht bin ich mir deshalb nicht benachteiligt vorgekommen. Seit über 50 Jahren lebe ich nun in Erstfeld. Schon bevor ich Kinder bekam, habe ich mich immer engagiert. Ich habe geholfen, wo es nötig war und angepackt, was ging – angefangen bei der Kindergartenkommission. So wurde ich später für den Landrat aufgestellt und siegte in einer Kampfwahl. Aber als Linke haben wir im Kanton Uri wenig Stich. Das Frauenstimmrecht haben die Männer seinerzeit mit 63 Prozent verworfen.

Jahrelang setzte ich mich an vorderster Front für die Alpeninitiative ein, als sie noch von allen belächelt wurde. Ich sammelte Unterschriften, diskutierte, hielt über 150 Vorträge in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland. Es war die interessanteste Zeit meines Lebens.

Frauen müssen die Gleichstellung selbst in die Hände nehmen. Solange im Parlament nicht die Mehrheit in Frauenhand ist, wird die Gleichstellung nicht verwirklicht. Es gibt auch im Privaten viel zu tun. Frauen, die sich bei Mann und Kindern ständig für ihr Engagement ausser Haus rechtfertigen müssen, können keine Karriere machen. Auch im Arbeitsleben sind noch viele Forderungen für Gerechtigkeit und Gleichstellung offen. Betreuungsstrukturen für Kinder und gleicher Lohn für gleiche Arbeit sind nur zwei davon.»

Tiziana Mona, erste Nachrichtensprecherin Europas

«1969 wurde ich die erste Tagesschau-Sprecherin Europas und las die Hauptnachrichten am Tessiner Schweizer Fernsehen. Einmal kritisierte ein Zuschauer, dass ich die Nachrichten zwar lesen, aber offensichtlich nicht verstehen würde. Ich entgegnete, dass ich sie sogar selbst redigiere und mit seiner Unterstützung an der Urne vielleicht bald selbst mitbestimmen dürfe. Doch darüber hinaus beschäftigte mich das fehlende Stimm- und Wahlrecht nicht besonders. Meine Mutter hatte mir beigebracht, dass Mädchen und Frauen alles erreichen können. Die Gleichstellungsfrage ist so viel grösser als das Stimm- und Wahlrecht! Dieses sollte eine Selbstverständlichkeit sein, so schien es mir schon damals. Es ist aber im Kontext eines echten sozialistischen und feministischen Kampfes marginal. Extrem formuliert, hat das Frauenstimmrecht allein nicht viel zur Überwindung der realen Diskriminierung der Frauen beigetragen – wenn wir ganz nüchtern die Realität 50 Jahre später betrachten.

Anfang der 70er Jahre war alles möglich, es herrschte Aufbruchstimmung. Ich reiste für längere Zeit in die USA und lernte dort die Grössen der feministischen Bewegung kennen, Kate Millet, Betty Friedan, Barbara Steinem, Robin Morgan. Zurück am Leutschenbach moderierte ich weiter das «Telegiornale» und machte hinter den Kulissen Karriere – ich wurde Sendeleiterin und Inlandchefin, ab Mitte der 90er Jahre war ich bei der Generaldirektion der SRG SSR in Bern für TV-Programme und internationale Zusammenarbeit zuständig. Von 1980 bis 1994 präsidierte ich auch die Gewerkschaft SSM, und fast wäre ich Anfang der 90er Jahre Präsidentin des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds geworden. Bitter war, dass mir ausgerechnet ein paar Frauen-Stimmen fehlten, wie mir später zugetragen wurde.

Manchen Frauen fehlt es auch heute noch an Selbstbewusstsein. Man sollte Empowerment-Kurse für Frauen machen! Frauen, traut euch und nehmt die Dinge an die Hand! Auch mit der Frauen-Solidarität ist es manchmal nicht weit her. Gerade im Arbeitsalltag sollten Frauen mit einer Leitungsfunktion Frauen fördern und dafür sorgen, dass die Frauen-Kultur besser im Unternehmen verankert wird. Denn schliesslich ist die Gleichstellung immer eine Machtfrage.»

Gabrielle Nanchen, erste Nationalrätin der SP

«Im Wallis - wo ich seit fast 55 Jahren lebe - wurde ein Jahr zuvor, am 12. April 1970, den Frauen das Stimm- und Wahlrecht gewährt. Dieses Datum war für mich wichtig. Da erhielt ich zurück, was mir schon früher zugestanden hatte. Bevor ich meinen Mann kennenlernte, lebte ich im Kanton Waadt, der bereits 1959 das Frauenstimmrecht eingeführt hatte. Als ich ins Wallis zog, verlor ich meine Identität als Bürgerin. Dass ich von heute auf morgen wie eine Minderjährige behandelt wurde, empfand ich als zutiefst ungerecht. Ich war schon immer allergisch gegen Ungerechtigkeiten aller Art. Mein Mann und ich traten darum 1967 in die SP ein. Im Rahmen der Partei habe ich mich für das Frauenstimmrecht eingesetzt, mit Artikeln für die Walliser Bevölkerung und mit einigen Reden vor Genoss:innen. Die nationale Kampagne? Daran habe ich mich nicht besonders beteiligt. Ich hatte zwei kleine Kinder, die mich mehr als Vollzeit beschäftigten, ich lebte in einem Bergdorf, hatte kein Auto und soziale Netzwerke gab es nicht. Am 7. Februar 1971 verfolgte ich die Nachrichten am Radio. Ich war sehr glücklich, aber da ich an diesem Tag mit den Kindern alleine zu Hause war, feierte ich das Ereignis nicht.

Auch heute sind bestimmte gesellschaftliche Gruppen in der Schweiz nicht stimmberechtigt. Was jetzt in Genf passiert, wird sich hoffentlich in der ganzen Schweiz durchsetzen. In Genf haben Menschen mit einer «geistigen Behinderung» kürzlich ihre Bürgerrechte zurückbekommen. Sie dürfen stimmen und wählen gehen. Wir können auch über die Städte sprechen, in denen Ausländer:innen das Stimmrecht haben, sofern sie seit einer gewissen Zeit in der Schweiz leben. Ich hoffe, dass dies überall möglich wird. Dies umso mehr, als sich diese Menschen oft stärker am öffentlichen Geschehen beteiligen als viele Schweizerinnen und Schweizer, die der Urne fernbleiben.

Es sind schwierige Zeiten. Aber man darf die Hoffnung nicht verlieren. Wir alle wissen, dass jede Krise das Beste und das Schlimmste hervorbringt. Die Krise, die wir gerade durchleben, zeigt uns deutlich, dass wir auch in der Schweiz in einer Gesellschaft der zwei Geschwindigkeiten leben. Das dürfen wir nicht akzeptieren. Der Schriftsteller Georges Bernanos schrieb: ‘Wir erleiden die Zukunft nicht, wir machen sie.’ Genau das ist es, was ich glaube.»

 

 

02. Feb 2021