Was sich momentan in Europa abspielt, werden wir wohl erst im Rückblick richtig erfassen. Zehntausende von Menschen, die viele Monate lang in Flüchtlingslagern rund um die Kriegsgebiete im Mittleren Osten und im Horn von Afrika auf eine baldige Rückkehr hofften, haben sich in den letzten Wochen auf den Weg nach Norden gemacht. Nach dem Einmarsch des IS und der immer stärkeren Verwüstungen ist ihre Hoffnung auf ein Zurück in ihre Heimat zerstört. Nicht mehr die Rückkehr, sondern ein Neustart ist das Ziel. Die Vertriebenen wollen weg aus den Lagern der Perspektivlosigkeit, bevor der nächste Winter kommt.

Deutschland ist das Land ihrer Träume. Viele haben dort Verwandte. Andere hoffen, irgendwo unterzukommen und einen Job bei einem Landsmann oder einer Landsfrau zu finden. Deutschland, wo eben noch Asylunterkünfte brannten, bereitet den Flüchtlingen ein warmes Willkommen. Eine unerwartete Welle der Solidarität und der Hilfsbereitschaft hat die Kaltherzigkeit als politischen Imperativ aus den Schlagzeilen verdrängt. Dieses Deutschland wird ein neues Deutschland sein.

Wir erleben einen historischen Moment europäischer Geschichte. Das Bild des toten, angeschwemmten Aylan am Strand von Bodrum wird diesen Wendepunkt symbolisieren. Europa knüpft dort an, wo es entstanden ist: bei der Solidarität. «Krisen können nur gemeinsam bewältigt werden.» Dieses Axiom der jüngeren europäischen Geschichte hat seine Wurzeln in den Trümmern und der Zerstörung der beiden Weltkriege. Und das Axiom hat sich offenbar doch tiefer und beständiger in die europäischen Seelen eingeschrieben, als wir zwischenzeitlich befürchteten.

Wir erleben aber auch ein Experiment. Zum ersten Mal seit Generationen werden Flüchtlinge willkommen geheissen und mit offenen Herzen empfangen. Was macht das mit uns Menschen? Mit uns, die wir hier leben, und mit jenen, die zu uns kommen? Was bedeutet das für die Integration? Wie wird die Willkommenskultur unser Zusammenleben prägen?

Augenfällig ist, wie glücklich Helfen macht. Die Bilder aus den deutschen Bahnhöfen rühren auch hartgesottene Zeitgenossen zu Tränen. Die strahlende Polizistin, die den kleinen Hassan an der Hand führt. Der lachende Bahnarbeiter, der dem syrischen Jungen seine Mütze auf den Kopf setzt. Die Helferin, die der erschöpften, dankbar lächelnden Mutter bei der Versorgung ihrer Kleinkinder hilft. Erschöpfung mischt sich mit Dankbarkeit, Professionalität mit Menschlichkeit.

Ich bin überzeugt: Dieses warme Willkommen wird die Integration erleichtern. Die Flüchtlinge werden die schützenden, applaudierenden Hände nicht vergessen. Sie (und damit meine ich die grosse Mehrheit der Flüchtlinge) werden ihren Kindern immer und immer wieder von der Hilfsbereitschaft der Menschen an den Bahnhöfen erzählen. Es wird Teil ihres Stolzes und ihrer neuen Identität werden, das Willkommen zu entgelten. Sie werden sich alle erdenkliche Mühe geben, das Gastland und den Menschen, die ihnen geholfen haben, zu ehren. Und deshalb werden sie sich um eine rasche Integration bemühen.

Deshalb sollten wir der «grossen Schwester» Deutschland folgen. Engagieren wir uns bei den verschiedenen Hilfswerken als Freiwillige. Wir können Patenschaften für Flüchtlingsfamilien übernehmen oder jungen Menschen als Mentoren bei der Berufswahl zu Seite stehen. Wir können uns bei freiwilligen Sprachkursen engagieren oder auch einfach Geld spenden. Und wir können alle in unserer direkten Umgebung Haltung zeigen und für eine Willkommenskultur eintreten. 

07. Sep 2015