Das Ziel der Masseneinwanderungsinitiative war, die Zuwanderung wieder «eigenständig» zu steuern und dafür das Personenfreizügigkeitsabkommen anzupassen. Der Wille, dass dabei das bilaterale Vertragsverhältnis mit der Europäischen Union gesichert bleibt, war die explizite Ansage der Initianten im Abstimmungskampf. Die Europäische Union weigerte sich aber, über eine Anpassung des Abkommens zu verhandeln. Daraus ergibt sich eine neue Ausgangslage. Wir haben drei Optionen.

Adrian Amstutz fuchtelte am 21. September mit der Verfassung am Rednerpult des Nationalrats herum wie ein Wanderprediger mit der Bibel, als gälte es, die Gottlosen zu bekehren. Die Kritik gegen den Entscheid des Nationalrates über die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative wurde öffentlich mit den Schlagwörtern Verfassungsbruch und Kapitulation weitergeführt.

Die Argumente sind falsch. Der Widerspruch liegt nicht zwischen dem Willen des Volkes und den bilateralen Verträgen, nicht zwischen der Verfassung und der europäischen Union, gegenüber welcher der Nationalrat kapituliert habe. Der Widerspruch liegt im Zuwanderungsartikel selbst. In den Jahren zuvor haben sechs Volksabstimmungen die Zustimmung zu den bilateralen Verträgen bestätigt.

Das Ziel der Masseneinwanderungsinitiative war, die Zuwanderung wieder «eigenständig» zu steuern und dafür das Personenfreizügigkeitsabkommen anzupassen. Der Wille, dass dabei das bilaterale Vertragsverhältnis mit der Europäischen Union gesichert bleibt, war die explizite Ansage der Initianten im Abstimmungskampf. Dies wurde auch durch die Erläuterungen des Bundesrates zur Abstimmung bestätigt. Dort heisst es, die Initiative verlange nicht die Kündigung der bilateralen Abkommen, sondern nur die Neuverhandlung des Freizügigkeitsabkommens. Artikel 197 Ziff. 9 sieht für diese Neuverhandlung eine Übergangsfrist von drei Jahren vor. Die Europäische Union weigerte sich aber, über eine Anpassung des Abkommens zu verhandeln. Deshalb liess sich der Zuwanderungsartikel nicht wie vorgesehen umsetzen.

Daraus ergibt sich eine neue Ausgangslage, weil es sich herausgestellt hat, dass der Volkswille nicht vollumfänglich erfüllt werden kann. Wir haben drei Optionen:

Erstens können wir mit einem Vertragsbruch Massnahmen zur autonomen Steuerung der Zuwanderung gemäss Art. 121a erlassen, ohne diese in den im Abkommen vorgesehenen gemischten Ausschuss einzubringen. Der Plan B des Bundesrates einer einseitigen Schutzklausel oder die erfolglosen Vorschläge der CVP im Nationalrat der letzten Woche wären ein solcher Vertragsbruch, weil sie Artikel 13 des Freizügigkeitsabkommens verletzen. In diesem sogenannten «stand still»-Artikel verpflichten sich die «Vertragsparteien (…), in den unter dieses Abkommen fallenden Bereichen keine neuen Beschränkungen für Staatsangehörige der anderen Vertragspartei einzuführen.»

Das Bundesgericht hat schon im November 2015 bekräftigt, dass es die internationale Vertragsverpflichtung über ein vertragswidriges nationales Gesetz stellen würde. Ein Vertragsbruch ohne Vertragskündigung lässt sich weder mit dem Willen des Volkes noch mit der Weigerung der EU, auf Neuverhandlungen einzusteigen, rechtfertigen. Diese Weigerung, so unfreundlich sie auch sein mag, ist völkerrechtlich zulässig.

Ein solcher Vertragsbruch steht deshalb nicht im Einklang mit unserer Rechtsordnung und erfüllt damit auch nicht die so lautende Bedingung, die das Parlament an die Ratifikation des Kroatienprotokolls gestellt hat. Diese ist notwendig, um unsere Teilnahme am EU-Forschungsprogramm zu sichern. Selbst wenn wir trotzdem das Protokoll ratifizieren, können wir damit vielleicht höchstens das Forschungsabkommen, aber sicher nicht die Zukunft des Bilateralismus sichern.

Zweitens können wir das Abkommen kündigen und den Artikel 121a wortgetreu umsetzen. Das scheint ein sauberer Ausweg zu sein. Er steht aber im Widerspruch zur Absicht der Initiative, die bilateralen Verträge zu erhalten, weil diese durch die Guillotine-Klausel ernsthaft in Frage gestellt würden. Im günstigsten Fall wäre unser Verhältnis mit Brüssel länger blockiert.

Drittens der «Inländervorrang ‚light’», den der Nationalrat am 21. September – auch in Anbetracht der Überlegungen zur ersten und zweiten Option – beschlossen hat. Dieser erfüllt das Ziel der Initiative, die bilateralen Verträge nicht zu gefährden, weil er nur Steuerungsmassnahmen im Rahmen des gemischten Ausschusses vorsieht und das Abkommen nicht verletzt. Wegen seines inneren Widerspruchs lassen sich aber damit die  Ziele des Zuwanderungsartikels nur teilweise umsetzen. Das Gleiche gälte jedoch ebenso für die Optionen eins und zwei.

In jedem Fall stellt sich die Legitimationsfrage im weiteren Vorgehen. Es gibt drei Möglichkeiten.

  • Erstens: Folgt der Ständerat dem Nationalrat und beschliesst das Parlament den «Inländervorrang ‚light’», könnte dafür die Zustimmung des Volkes behauptet werden, wenn das Referendum ausbleibt oder abgelehnt würde. Damit bliebe aber der erwähnte Teil-Widerspruch zu Art. 121a, der auch über das Ständemehr in die Verfassung aufgenommen worden ist, bestehen.
  • Zweitens eine Volksinitiative zur Kündigung des Personenfreizügigkeitsabkommens. Diese würde die Wahl zwischen autonomer Zuwanderungspolitik und Sicherung der bilateralen Verträge klar auf den Tisch bringen. Dafür fehlt der SVP aber der Mut.
  • Drittens ein Gegenvorschlag zur RASA-Initiative, womit Art. 121a vertragskompatibel angepasst würde. Das wäre eine saubere Lösung. Der Einwand der Zwängerei durch die Wiederholung einer Abstimmung zum gleichen Gegenstand ist deshalb unberechtigt, weil sich, wie dargestellt, die Ausgangslage verändert hat.  Aber auch diese Lösung verlangt politischen Mut, vor allem vom Bundesrat.

 

28. Sep 2016