Votum von Paul Rechsteiner (Ständerat SG) anlässlich der Debatte über die Volksinitiative für eine öffentliche Krankenkasse im Ständerat am 9. Dezember 2013.

Der letzte grosse Reformschritt in der sozialen Krankenversicherung erfolgte 1996 mit dem neuen Krankenversicherungsgesetz und dem Krankenversicherungsobligatorium. Was in den USA erst unter der Regierung Obama gelungen ist - auch wenn an der konkreten Umsetzung jetzt noch herumgedoktert wird -, ist bei uns seit nun bald zwanzig Jahren Realität. Das Obligatorium bedeutet, dass niemand von der Krankenversicherung ausgeschlossen werden darf und dass alle in der obligatorischen Versicherung Anspruch auf den gleichen Leistungskatalog haben. Das sind grosse soziale Errungenschaften in unserem Gesundheitswesen. Diese Errungenschaften wirken sich sehr zum Nutzen der Bevölkerung aus. 

Nicht Schritt gehalten mit diesen grossen Veränderungen haben die Krankenkassen und die Versicherungslandschaft. Obschon wir heute ein Versicherungsobligatorium mit gesetzlich festgelegten Leistungen haben, verhalten sich die Versicherungskonzerne so, als befänden wir uns bei der Versicherung im Gesundheitswesen nach wie vor in einem Wettbewerbssystem. Wir erleben das jeden Herbst wieder aufs Neue: Mit aufdringlichen Anrufen wird uns ein Versicherungswechsel geradezu aufgedrängt, wenigstens solange wir nicht durchblicken lassen, dass wir gerade eine schwerere Krankheit hinter uns hätten. An jedem Kassenwechsel wird verdient, ohne dass unser Gesundheitssystem irgendetwas davon hätte. Die Werbe- und Marketingkosten belaufen sich inzwischen auf über 200 Millionen Franken pro Jahr. 

Wenn wir danach fragen, ob wir die Krankenversicherung durch ein System mit einer Vielzahl von Krankenkassen oder durch ein System mit einer einzigen öffentlichen Krankenkasse organisieren wollen, wie es die Initiative vorschlägt, dann muss das entscheidende Kriterium bei der Beantwortung dieser Frage jenes der Effizienz sein - der Effizienz aus Sicht des Gesamtsystems und aus Sicht der betroffenen Bevölkerung, der Versicherten. 

Der Wettbewerb ist immer dann ein effizientes Verfahren, wenn sich die Produkte qualitativ unterscheiden. Ginge es bei der Krankenversicherung um normale Güter und Dienstleistungen, käme niemand auf die Idee, die Konkurrenz unter Kassen und Versicherungen abzuschaffen. Bei der obligatorischen Krankenversicherung geht es aber um ein besonderes Gut. Die Leistungen sind abschliessend im Gesetz geregelt. Es gibt hier keinen Wettbewerb bei den Leistungen. Die Krankenversicherungen dürfen in der Grundversicherung auch keinen Gewinn machen. Es ist deshalb nicht einzusehen, weshalb die Kassenvielfalt aus Sicht der Betroffenen, der Versicherten, Vorteile bringen soll, im Gegenteil: Wenn die Leistungen gesetzlich festgelegt sind - und das sind sie im KVG -, dann ist eine öffentliche Kasse für die Betroffenen transparent und als System effizient. 

Denn wo liegen heute für die Kassen die Konkurrenzmöglichkeiten? Letztlich doch einzig darin, dass sie sich gegenseitig die guten Risiken abjagen. Deshalb braucht es in einem Wettbewerbssystem bei gesetzlich abschliessend geregelten Leistungen wieder einen Risikoausgleich und immer wieder Verfeinerungen dieses Risikoausgleichs. Aber auch der beste Risikoausgleich kann nicht verhindern, dass wieder Mittel und Wege gesucht werden, die Verteilung der Risiken auszuhebeln, denn nur auf diesem Gebiet können die Kassen konkurrieren. Mit einer öffentlichen Krankenkasse braucht es keinen Risikoausgleich, es braucht keine Ausgaben für Werbung und Marketing, es braucht keine Krankenkassenverbände, und es entstehen keine Wechselkosten. Das ist günstiger und effizienter, und die Versicherten müssen sich zudem nicht alljährlich mit der Kassenwahl herumschlagen.

In einer gesundheitspolitischen Perspektive kommt ein weiterer Grund hinzu: Bricht sich jemand einen Wirbel, dann trägt die Unfallversicherung die Gesamtverantwortung für diesen Unfall, theoretisch und oft auch praktisch - wenn wir an die Problematik von Rückfällen denken - bis zum Lebensende. Das ist der Grund dafür, dass die Unfallversicherung ein grosses Interesse an einer guten und nachhaltigen Versorgung der Unfallfolgen hat. Das ist ein grosser Systemvorteil der Unfallversicherung. Diesen Systemvorteil gibt es bei der Krankenversicherung im Wettbewerbssystem nicht. Hat also jemand beispielsweise statt eines Wirbelbruchs einen Tumor im Wirbelbereich, dann weiss der zuständige Krankenversicherer nicht, ob er auch im nächsten Jahr oder in fünf, in zehn Jahren noch für den Patienten zuständig sein wird. 

Sein Behandlungsinteresse ist somit nicht das gleiche wie bei der Unfallversicherung. Im System der öffentlichen Krankenkasse gibt es dagegen nur noch eine Gesamtverantwortung wie bei der Unfallversicherung und keine Interessen mehr, schlechte Risiken abzuschieben. 
Die Krankenkassenverbände - die traditionelle Santésuisse wie auch der sich innovativ nennende neue Kassenverband Curafutura - wehren sich mit Händen und Füssen gegen diese Innovation der öffentlichen Krankenkasse, und das mit dem Einsatz enormer Mittel, die eigentlich im Gesundheitswesen besser für die Interessen der Versicherten eingesetzt würden.

Hier wird ein weiterer Vorteil der öffentlichen Krankenkasse sichtbar: Bei einer öffentlichen Krankenkasse wäre Schluss mit dem diesbezüglichen Lobbyismus im Bundeshaus, der seinesgleichen sucht, indem beispielsweise gutbezahlte parlamentarische Beiräte bei uns in der Lage sind, fast jeden positiven Reformschritt in der Krankenversicherung zu blockieren, wie wir das jetzt im Nationalrat beim Krankenversicherungsaufsichtsgesetz wieder auf eine traurige Art und Weise erleben. Diesem Gesetz ging eine Opposition dieser Krankenkassenverbände voraus; mindestens in der ersten Runde ist die Mehrheit des Nationalrates dieser gefolgt. Dabei verfügt die öffentliche Krankenversicherung bis heute nicht über eine mit der Privatversicherung vergleichbare Aufsicht - ein offenkundiger Missstand, dessen Behebung durch diese Lobbytätigkeit verhindert wird. 

Wo es wie bei der Grundversicherung um eine Sozialversicherung geht, haben die Schweizerinnen und Schweizer gute Erfahrungen mit öffentlichen Institutionen gemacht. Das wichtigste Beispiel dafür ist natürlich die AHV, zu nennen ist aber auch ein Modell, wie es die Suva bei der Unfallversicherung darstellt. Das neue Krankenversicherungsgesetz von 1996, das der Bevölkerung zugutegekommen ist, war ein grosser Reformschritt. Machen wir nun folgerichtig den nächsten Schritt zur öffentlichen Krankenkasse! 

12. Dez 2013