Eigentlich sieht mein Berufsalltag als leitende Psychologin der psychiatrischen Ambulatorien im Oberaargau auch während der Corona-Krise immer noch gleich aus. Ich gehe nach wie vor jeden Tag zur Arbeit ins Spital Langenthal. Ich bin da für die Patientinnen und Patienten und stehe im Austausch mit den Mitarbeitenden. Und doch – alles ist anders: Wir konzentrieren uns jeden Tag neu darauf, als Institution weiter zu funktionieren.

Denn psychiatrische und psychologische Betreuung und Beratung sind nötiger denn je. Wir tun alles, um die Patientinnen und Patienten sowie uns selbst zu schützen. Viele Sitzungen können wir gut per Video abhalten, und auch Gespräche mit den Patientinnen und Patienten per Telefon sind möglich. Die Psychiatrie lebt aber vom persönlichen Kontakt. Psychiatrie mit Schutzmaske ist sehr gewöhnungsbedürftig. Ich möchte mich daran nicht gewöhnen.

Wir sind geschult darin, mit schwierigen Situationen umzugehen. Aber für viele von uns hat der Stress nochmals zugenommen. Ebenso für die Patientinnen und Patienten. Die Verunsicherung ist gross und belastet alle. Wir haben deshalb eine Hotline ins Leben gerufen, wo wir den Leuten beratend zur Seite stehen.

Mich beschäftigt die Unsicherheit in unserer Gesellschaft. Menschen brauchen eine Perspektive, die der Zukunft eine Richtung vorgibt. Daran halten wir uns. Das ist sinnstiftend. Mit der unsicheren Zukunft können wir nur schlecht umgehen. Viele können es gar nicht. Die Angst vor Krankheit kann krank machen. Oder die Angst, den Job zu verlieren, das Geschäft schliessen und Leute entlassen zu müssen. Diese Krise werden wir in der psychologischen und psychiatrischen Betreuung und Therapie von Menschen noch lange spüren.

Dass die Corona-Krise für viele existenziell ist, sehe ich auch als Präsidentin des Mieterinnen- und Mieterverbands des Kantons Bern. Wenn die Einnahmen wegbrechen, reicht es plötzlich nicht mehr für den Mietzins. Diese Krise trifft nicht nur die Menschen am Rande der Gesellschaft, sie reicht bis in unsere Mitte.

Ich bin aber zuversichtlich: Wir werden als Gesellschaft, als Gemeinschaft daran erinnert, wie wichtig Solidarität und ein starker Staat sind. In den letzten Jahren wurde uns von gewissen Kreisen eingeredet, dass jeder vor allem für sich schauen muss. Nun entdecken wir die Stärke des Gemeinwesens. Jenes Gemeinwesens, das in den letzten Jahren in vielen Ländern Europas zusammengespart wurde. Jetzt wird sichtbar, wie wertvoll ein gutes Gesundheitswesen und das soziale Netz sind.

Marieke Kruit
Präsidentin der SP/JUSO-Fraktion im Stadtrat Bern
Psychologin/Psychotherapeutin und Co-Leiterin der psychiatrischen Ambulatorien im Oberaargau

11. Mai 2020