Nach zweieinhalb Jahren zähen Ringens hat der Nationalrat am Mittwoch die erste Etappe zur Umsetzung von Artikel 121a der Bundesverfassung geschafft. Das Dilemma, in dem sich die Schweiz wegen der SVP befindet und zu dessen Lösung die SVP nichts, aber auch gar nichts beiträgt, ist damit noch nicht überwunden. Aber zumindest sind die für die Schweiz so wichtigen bilateralen Verträge nicht mehr unmittelbar gefährdet.

Was schlägt das Parlament zur Umsetzung von Artikel 121a der Bundeverfassung («Masseneinwanderungsinitiative») genau vor?

Der Nationalrat schlägt zur Umsetzung von Artikel 121a BV ein dreistufiges System vor:

  • Erstens sollen inländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stärker gefördert werden. Die SP schlägt zum Beispiel die Intensivierung der Fachkräfteinitiative oder den Ausbau der familienexternen Kinderbetreuung vor.
  • Zweitens soll ab einem bestimmten Zuwanderungs-Schwellenwert für bestimmte Regionen, Branchen oder schweizweit eine so genannte Stellenmeldepflicht gelten («Inländervorrang light»). Die Arbeitgeber werden dabei verpflichtet, offene Stellen an die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren RAV zu melden. Schwellenwert und genaue Modalitäten legt der Bundesrat in Zusammenarbeit mit einer Zuwanderungskommission fest (Kantone und Sozialpartner).
  • In einer dritten Stufe kann der Bundesrat bei «schwerwiegenden sozialen und wirtschaftlichen Problemen» der EU bestimmte Massnahmen vorschlagen («Abhilfemassnahmen»). Diese können über das hinausgehen, was das Freizügigkeitsabkommen mit der EU vorsieht, aber nur dann, wenn beide Vertragspartner – Schweiz und EU – zustimmen.

Warum macht die SP da mit? Ist sie jetzt plötzlich für die SVP-Zuwanderungsinitiative?

Nein, die SP hat gegen die SVP-Zuwanderungsinitiative gekämpft und ist auch heute keine Freundin dieses Verfassungsartikels. Wir haben schon mehrmals eine Korrektur dieser missratenen Verfassungsbestimmung aus der Feder der SVP vorgeschlagen. Leider gibt es dafür keine Mehrheit im Parlament. Also haben wir uns entschlossen, das Schlimmste zu verhindern. Und das wäre ein Bruch in den Beziehungen mit der EU, namentlich der Wegfall der Personenfreizügigkeit und der Bilateralen.

Ein solcher Bruch mit der EU wäre für die Schweiz in mehrfacher Hinsicht katastrophal. Erstens ermöglichen diese Abkommen hunderttausenden von Schweizerinnen und Schweizer das freie Reisen, Studieren und Arbeiten in ganz Europa. Zweitens ist die Schweiz als kleine Exportnation mit stark globalisierter Wirtschaft auf den Zugang zum europäischen Binnenmarkt angewiesen. Drittens beruht unser Wohlstand ganz stark auf der Zuwanderung aus Europa – die Schweiz hat selber zu wenig Ärzte, Pflegepersonal oder Fachspezialisten. Und viertens hängen die so genannten Flankierenden Massnahmen, also die Massnahmen zum Schutz der Löhne und Arbeitsbedingungen, direkt an der Personenfreizügigkeit.

Fällt die Personenfreizügigkeit, so fallen auch die Flankierenden. Darum hat die SP zwei rote Linien definiert unter denen wir bereit waren, eine sanfte Umsetzung mitzutragen: Schutz der Flankierenden und Erhalt der Bilateralen. Jede Umsetzung von Artikel 121a mit Kontingenten und Höchstzahlen wäre ein direkter Bruch mit den bilateralen Verträgen.

Die SVP schreit «Verfassungsbruch» – was ist da dran?

Bei der vorliegenden Variante handelt es sich um eine sanfte Umsetzung des Verfassungsartikels, das ist richtig. Die Verfassungsjuristen sind sich allerdings uneinig: Viele sehen den Verfassungsartikel in seiner Intention durch diese Lösung gewahrt. Tatsache ist, dass der Verfassungsartikel einerseits Höchstzahlen, Kontingente und einen Schweizervorrang und andererseits die Berücksichtigung der gesamtwirtschaftlichen Interessen verlangt. Wir sind überzeugt davon, dass das gesamtwirtschaftliche Interesse bei einer Kündigung der Bilateralen nicht mehr gewahrt wäre. Denn auch die Bilateralen wurden vom Stimmvolk genehmigt und bestätigt, in nicht weniger als sechs Abstimmungen.

Nach zweieinhalb Jahren Beratung und Verhandlungen ist klar: Kontingente und Höchstzahlen können – entgegen der Behauptungen der SVP vor der Abstimmung – nicht eingeführt werden, ohne dass die Bilateralen ernsthaft gefährdet würden. Der Verfassungsartikel beinhaltet somit einen nicht auflösbaren inneren Widerspruch.

Ironischerweise verhalf dieselbe SVP keine 24 Stunden nach der Debatte zur Masseneinwanderungsinitiative einer Amnestie für Steuerkriminelle zum Durchbruch, die gleich gegen mehrere Verfassungsgrundsätze verstösst. Auch wenn es um den Alpenschutzartikel geht, die Gleichstellung von Mann und Frau (Lohngleichheit) oder zum Beispiel das Verhältnismässigkeitsprinzip und grundlegende Menschenrechte (Durchsetzungsinitiative) nimmt es die SVP mit der Verfassung selten sehr genau. Als wenige Monate nach der Abstimmung über die Unternehmenssteuerreform II bekannt wurde, dass Bundesrat Merz und die Befürworter das Volk über die wahren finanziellen Folgen der Vorlage brandschwarz angelogen hatten, war es ebenfalls die SVP, die im Parlament zusammen mit anderen rechten Parteien eine erneute Abstimmung verhinderte.

Wie geht es jetzt weiter?

Das Parlament hat die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien an die Bedingung geknüpft, dass vorher der Artikel 121a umgesetzt ist. Für die EU ihrerseits ist die Ausdehnung auf Kroatien die Bedingung für die Fortführung verschiedener gemeinsamer Programme, darunter das für die Schweizer Hochschulen zentrale Forschungsabkommen Horizon 2020. Die Frist läuft am 9. Februar 2017 ab. Deshalb muss das Parlament in seiner Wintersession eine entsprechende Vorlage verabschieden. Geschieht das, kann der Bundesrat umgehend die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit ratifizieren. Auch bei einem Referendum könnte so verfahren werden. Der Ständerat hat also nur kurz Zeit, um den Vorschlag des Nationalrates zu beraten und die Massnahmen allenfalls zu konkretisieren und auszubauen, die roten Linien bleiben aber die gleichen: Schutz der Flankierenden und Erhalt der Bilateralen.

Die SP ist bereit, solche Vorschläge zu prüfen. Wir wollen einerseits einen verstärkten Schutz der Löhne und Arbeitsbedingungen, andererseits müssen wir Menschen, die bereits hier sind, den (Wieder-)Eintritt in den Arbeitsmarkt erleichtern. Also mehr Jobs für ältere Arbeitnehmende, für Arbeitslose, aber auch für Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene. Das ist die richtige Strategie, nicht die willkürliche Begrenzung der Personenfreizügigkeit.

... und was ist mit der Initiative Raus aus der Sackgasse RASA?

Natürlich stellt sich die Frage einer Anpassung der Verfassung unweigerlich: Entweder, weil nach wie vor Kontingente und Höchstzahlen in der Verfassung stehen oder weil mit der RASA-Initiative (oder einem allfälligen Gegenvorschlag) sowieso eine Klärung ansteht. Die SP hat immer gesagt und bleibt dabei: 121a ist in sich widersprüchlich und nicht im Interesse unseres Landes. Die sauberste Lösung wäre ein neuer Verfassungsartikel, der geordnete Beziehungen mit Europa zum Ziel erklärt. Denn die Bevölkerung hat fünf Mal Ja gesagt zu den Bilateralen und einmal Nein zu Ecopop. Auch das ist ein klarer Volksauftrag. Am ehrlichsten wäre es darum, wenn die SVP eine Kündigungsinitiative gegen die Bilateralen lancieren würde. Aber dazu ist sie wohl zu feige.

Wie auch immer, wichtig ist aber vor allem, dass sich die Stimmbevölkerung in absehbarer Zeit äussern kann: Wollen wir die Bilateralen erhalten oder nicht? Deshalb: Ob das per Referendum, per Verfassungsvorschlag des Parlaments oder bei der Rasa-Initiative geschieht, ist sekundär. Wird die Frage ehrlich gestellt, kann auch ehrlich debattiert werden – und dann gewinnen wir diese zweite Abstimmung!

23. Sep 2016