Auch in Zukunft sind sozialdemokratische Werte und Lösungen gesucht: Wie können Kapitalismus und Globalisierung gezähmt werden? Wie können internationale Institutionen demokratischer und transparenter werden? Wie gehen wir mit den Herausforderungen der künftigen Arbeitswelt um? Wie kann der Sozialstaat reformiert werden, so dass er den Anforderungen der modernen Gesellschaft besser genügt?

Macron, der Inter­na­tio­nalist gegen Le Pen, die Nationalistin: So heisst die Entscheidung in Frankreich also. Eine Schlappe für die etablierten Parteien. Während der konservative François Fillon trotz Skandalen auf dem dritten Platz landete, war der Sozialist Benoît Hamon mit 6,4 Prozent weit abgeschlagen. Als TF1 um rund 21 Uhr in den Saal der Wahlfeier von Hamon schaltete, war bloss noch ein Dutzend versprengter Personen zu sehen. Der Rest: Schon lange gegangen oder gar nie gekommen. Der rechte Flügel der Sozialdemokrat­Innen wechselte zu Macron, der linke Flügel – der zwar Hamon in den Primärwahlen durchgesetzt hatte – lief scharenweise zum noch linkeren Jean-Luc Mélenchon über.

Den Sozialdemokraten geht es auch anderswo schlecht: In Holland wurden sie dezimiert, in Griechenland sind sie praktisch ausgestorben. In Deutschland sind sie schon länger auf der Intensivstation. Und eine empfindliche Niederlage bei den Parlamentswahlen in England ist auch zu erwarten. Nach der Finanzkrise 2008 hofften viele auf eine Renaissance der Linken. Sie ist nicht gekommen. Auch vom derzeitigen Anti-Trump-Effekt profitieren die traditionellen Linken nicht. Was ist der Grund für diese Schwäche? Gemeinhin werden drei Gründe angeführt, die alle auch miteinander zusammenhängen: Die Globalisierung, die Finanzkrise beziehungsweise die Austeritätspolitik und die Politik des dritten Weges, die die Sozialdemokraten Blair und Schröder in den 1990er-Jahren propagierten.
 
Tatsächlich ist es so, dass die Globalisierung ihre Versprechen nicht für alle eingelöst hat: Kleine und mittlere Einkommen in den westlichen Ländern stagnieren. Sie hat sich vom Mittel zum Zweck zum Selbstzweck gewandelt. Dass die Finanzkrise nicht zum Steilpass für die Sozialdemokraten wurde, liegt zudem daran, dass man ihnen mindestens eine Mitschuld daran gibt. Die Sozialdemokraten des dritten Wegs haben durch Deregulierung die Voraussetzungen für die Krisen geschaffen, die mitregierenden Sozialdemokraten stützten mit der Austeritätspolitik deren miserable Bewältigung. Die Sozialdemokratie wird also als Teil des Problems und nicht der Lösung angesehen.
 
Das sieht auch meine kleine Social-Media-Filterblase so. Es gibt dort – in Bezug auf Frankreich, aber die Diskussion war bei den US-Wahlen ähnlich – eigentlich drei Lager. Das erste findet, dass es ein Fehler der Linken war, auf Identitätspolitik zu setzen statt auf sozioökonomische Themen. Statt über Sexismus oder Rassismus sollte man gescheiter über die soziale Frage sprechen, dann klappt es auch wieder mit den Wahlen. Das ist natürlich Unsinn: Denn der Kampf für die Rechte marginalisierter Gruppen ist auch ein sozioökonomischer Kampf: Wer diskriminiert wird, verdient auch weniger und findet weniger leicht eine Arbeit. Zum zweiten wird verkannt, dass die Politik der Rechten in erster Linie identitär ist. Die Wirtschaftspolitik ist in einigen Ländern neoliberal, in anderen sozial. Die Gemeinsamkeit: Die Probleme in den internationalen Institutionen und die Lösung im Nationalstaat zu sehen. Der Nationalstaat als Ort der Solidarität, Demokratie und Identität, der selbstverständlich nicht multikulturell ist. Ein einfaches, aber wirksames Konzept, dem die Linke wenig entgegenzusetzen hat. Schon gar nicht, wenn man den Rechten mindestens indirekt Recht gibt.
 
Die zweite Blase will nicht soziale Fragen gegen den Kampf von marginalisierten Gruppen ausspielen. Ansonsten ist sie sich eigentlich mit der ersten Gruppe einig: Das Hauptproblem sei vor allem, dass die Sozialdemokraten zu wenig links seien und die traditionellen WählerInnen im Stich gelassen hätten. Einigkeit herrscht auch beim Schuldigen: Der Linksliberalismus (wahlweise progressiver Neoliberalismus). Er habe den Aufstieg der Rechtsnationalen verursacht und wird ihnen den Weg ebnen. Oder ganz kurz: Die Wahl von Macron führt zu einem Sieg von Le Pen in fünf Jahren. Eifrig werden zu dieser These Texte des französischen Soziologen Didier Eribon geteilt.
 
Der dritte Teil, zu dem auch ich gehöre, reibt sich ein wenig die Augen. Warum um Himmels Willen ist plötzlich der Liberalismus schlimmer als die Rechtsnationalisten? Und warum soll man nicht das kleinere Übel wählen, wenn die Alternative nun mal wirklich ein grosses Übel ist?
Offenbar ist Geschichte wirklich die ewige Wiederkehr des Gleichen. Mindestens bei Debatten scheinen wir verdammt dazu, sie immer zu wiederholen. Schon 1899 schrieb der Reformsozialist Eduard Bernstein: «Schliesslich wäre es auch zu empfehlen, in Kriegserklärungen gegen den ‹Liberalismus› etwas Mass zu halten. Es ist ja richtig, die grosse liberale Bewegung der Neuzeit ist zunächst der kapitalistischen Bourgeoisie zu Gute gekommen (…). Was aber den Liberalismus als weltgeschichtliche Bewegung anbetrifft, so ist der Sozialismus nicht nur der Zeitfolge, sondern auch dem geistigen Gehalt nach sein legitimer Erbe.» Dass Frauenrechte nur ein Nebenwiderspruch seien, wurde schon in den 1970er-Jahren von der neuen Frauenbewegung infrage gestellt.
 
Der «dritte Weg» ist auch nicht Ursache für den Niedergang der Sozialdemokratie. Er war der verunglückte Versuch einer Wiederbelebung angesichts einer langen elektoralen Schwäche und Ratlosigkeit angesichts von Thatcher und Reagan. Dass die Wiederbelebung des Patienten nur von kurzer Dauer und nicht nachhaltig war, liegt an den falschen Rezepten.

Und weil das mit dem dritten Weg in die Hose ging, lassen die Sozialdemokrat­Innen seither die Finger von Experimenten. Stattdessen begnügt man sich damit, den Sozialstaat zu verteidigen und schwelgt ein wenig in ArbeiterInnen-Nostalgie. Für Konservative mag Nostalgie ein gutes Rezept sein – für eine fortschrittliche Partei ist das die Selbstkapitulation.
 
Nun kann man selbstverständlich der Meinung sein, dass die Sozialdemokratie obsolet geworden ist. Dass der Patient nicht mehr zu retten sei. Ich sehe das natürlich anders. Auch in Zukunft sind sozialdemokratische Werte und Lösungen gesucht: Wie können Kapitalismus und Globalisierung gezähmt werden? Wie können internationale Institutionen demokratischer und transparenter werden? Wie gehen wir mit den Herausforderungen der künftigen Arbeitswelt um? Wie kann der Sozialstaat reformiert werden, so dass er den Anforderungen der modernen Gesellschaft besser genügt? Wie kann echte Gleichstellung erreicht werden? Sprich: Wie machen wir das Leben der Menschen besser? Und zwar hier und heute und in Zukunft.

Text erschienen im P.S. vom 28. April 2017

28. Apr 2017