Seit längerem – erst recht nach dem Brexit – sind wir kaum mehr in der Lage, vor lauter Bäumen den Wald zu erkennen. Viele sehen nicht einmal mehr die Bäume. Zeit, mit den Missverständnissen, welche die politische Diskussion zu Europa in der Schweiz prägen, aufzuräumen.

Das Schöne am Brexit ist, dass der Entscheid der Briten bzw. der Engländer bei uns zumindest nicht zu einer Diskussion über einen Austritt der Schweiz aus der EU geführt hat. Da wir ja nicht Mitglied sind. Die Konfusion um die Umsetzung der „Masseneinwanderungsinitiative“ wird allerdings zusätzlich bespielt durch allerlei neue Visionen und gescheite Beiträge zur Zukunft der EU, Britanniens und natürlich der Schweiz. Sonntag für Sonntag verfolgen wir gespannt die neuesten Vorschläge des parteipolitischen und professoralen Ideenbazars in diesem Umfeld. Da wir nach Jahren des Durcheinanders seit dem 9. Februar 2014 in unserem Selbstgespräch kaum weiter gekommen sind, drängen sich wieder einmal ein paar Grundsatzbemerkungen zu uns und unserem Verhältnis zu Europa auf.

Seit längerem – erst recht nach dem Brexit – sind wir kaum mehr in der Lage, vor lauter Bäumen den Wald zu erkennen. Viele sehen nicht einmal mehr die Bäume. Ich versuche es also einmal entlang der Schilderung von zwei, drei Missverständnissen, welche die politische Diskussion zu Europa in der Schweiz prägen.

Da ist einmal das Wesen der Personenfreizügigkeit (PFZ). Die PFZ ist der Kern des Kerns der Europäischen Union und des Binnenmarktes. Sie ist kein Instrument der Migrationssteuerung, sondern eine lange und hart erkämpfte Bürgerfreiheit aller Europäerinnen und Europäer. Die Freiheit, dort zu studieren, zu arbeiten, zu leben, wo sie dies möchten. Die PFZ ist also nicht einfach der Zugang zu Einwanderung, sondern die Freiheit der Niederlassung auch für uns Schweizerinnen und Schweizern in ganz Europa.

Die „einseitige Schutzklausel“ gehört genauso zu den Unwörtern der helvetischen Europadiskussion wie der „autonome Nachvollzug“ – erstere gibt es definitionsgemäss nicht einseitig, letzterer ist eine seit Jahren praktizierte Selbstlüge. Der Bundesrat setzt darum spät, aber doch auf den Artikel 14 Absatz 2 des Abkommens über die PFZ. Dieser sieht vor, dass die Schweiz bei schweren sozialen oder wirtschaftlichen Problemen innerhalb des gemischten Ausschusses Massnahmen beantragen kann (da ist sie also, die Vertragsklausel, Grüezi – alles andere sind einseitige innenpolitische Massnahmen). Nun ist es relativ schwierig bspw. einer jungen Spanierin bei einer Jugendarbeitslosigkeit von bis zu 50 Prozent eine solche Situation für die Schweiz glaubhaft zu machen. Dennoch: Die Vereinbarung von Grundätzen bei der Auslegung dieses Artikels ist der einzige Hoffnungsschimmer für eine Vereinbarung mit der EU. Eine verfassungskonforme Lösung mit Kontingenten und Höchstzahlen wird es nicht geben können. Ebenso wenig eine Neuverhandlung der PFZ als solche. Insofern ist der jüngste Vorschlag der SVP-Chefstrategen, eine Initiative für eine Kündigung der Bilateralen Verträge, eigentlich ehrlich und konsequent: Gefragt wurde das Volk nämlich nur nach der Zuwanderung, nicht dann der Zukunft der Bilateralen. Alle bisherigen Abstimmungen zum Verhältnis zu Europa seit dem EWR haben wir deutlich gewonnen.

Und schliesslich nochmals zum Brexit: Die Scheidungs- und anschliessenden Konkubinatsverhandlungen der EU mit Grossbritannien werden die Zeit und den Spielraum für eine Lösung mit der Schweiz mehr als einschränken. Wer von einem europäischen Alternativ- oder schlimmstenfalls Gegenprojekt im Rahmen der EFTA oder des bestehenden EWR träumt, verkennt zwei Dinge. Die EFTA als Freihandelsorganisation regelt nicht den alles entscheidenden Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Und der EWR ist eine Art EU ohne Mitbestimmung, aber mit Personenfreizügigkeit. Die Briten wären dann soweit wie wir – gleiche Konditionen, keine Mitsprache. So kann es ja wohl nicht gemeint gewesen sein.

21. Jul 2016